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Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)

Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)

Titel: Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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hörst die Englein singen. Jedenfalls war das genau das Richtige für Ryberg. So fand er schließlich zu Jesus.«
    Thomsen verzog das Gesicht.
    »›Ich schaff’s nicht allein!‹ Unfug, sage ich. Aber dieser Unfug hält ihn aufrecht, also ist es mir recht. Ja, wir haben ein gewisses Zusammengehörigkeitsgefühl, Ryberg und ich.«
    »Ich verstehe, Sie sind alte Bekannte?«
    »Tja, das kann man wohl sagen. Wir haben mal unser Blut vermischt.«
    »Also Freunde seit der Kindheit?«
    »Nein, nein, ich rede nicht von Dummejungenstreichen. Haben Sie schon mal von Kannibalismus gehört? Das wird tatsächlich auch bei Christenmenschen praktiziert. Sie werden überrascht sein, wozu Hunger und Durst schiffbrüchige Seeleute treiben können.«
    Carl warf dem Kapitän einen skeptischen Blick zu. Er erinnerte sich an sein Gespräch mit Albert Madsen in Marstal. Jetzt fehlte nur noch, dass Thomsen ihm einen Schrumpfkopf zeigte.
    »Sie und der Steuermann haben einmal eine gemeinsame Mahlzeit aus Menschenfeisch geteilt?«
    Thomsen lächelte.
    »Nicht ganz«, entgegnete er. »Lassen Sie es mich so ausdrücken: Wir haben zusammen die einleitenden Schritte unternommen. Es geschah während eines Orkans im Südatlantik. Eine falsche See zerschlug unser Schiff. Wir retteten uns auf ein Holzfoß. Acht Mann. Der Durst war das Schlimmste. Wir hatten einen Angelhaken und fingen hin und wieder einen Fisch. Aber es gab nichts zu trinken. Das war noch vor Rybergs Bekehrung. Denn Sie kennen seinen Herrgott ja gut genug, um zu wissen, dass er uns in dem Moment, in dem Ryberg die Hände gefaltet hätte, mit einer vollen Wassertonne zu Hilfe gekommen wäre. Am vierten Tag öffnete sich Ryberg mit einem Messer die Pulsader und bot mir an, von seinem Arm zu trinken. Ich spürte, dass ich dasselbe für ihn machen musste. Die anderen folgten unserem Beispiel, aber auf Dauer funktionierte das nicht. Wir losten, und einer von uns musste für die anderen sein Leben lassen. Wir tranken sein Blut. Ob wir schließlich auch sein Fleisch gegessen hätten, weiß ich nicht. Die Haie wurden schier wahnsinnig, als das Blut durch die Ritzen des Floßes sickerte. Sie waren so aufgeregt, dass sie am Ende gegenseitig aufeinander losgingen. Unser Floß wäre beinahe gekentert, wir mussten ihnen die Reste des armen Teufels überlassen.«
    Thomsen betrachtete aufmerksam Carls Gesicht.
    »Ich sehe Ekel in Ihrem Gesicht. Aber Sie sollten wissen, dass niemand sich selbst kennt, bevor er dem Tod nicht unmittelbar gegenübersteht und sich plötzlich ein Ausweg bietet, egal, wie fürchterlich er auch sein mag.«
    »Ich verurteile Sie nicht«, sagte Carl kleinlaut.
    »Ich kann Sie beruhigen, wir haben nicht noch einmal gelost. Die Übrigen starben von allein. Einer wurde wahnsinnig und sprang ins Meer, wo ihn sofort die Haie holten. Auf dem Floß gab es zwei Schweden. Sie glaubten, sie wären in einer Kneipe in Stockholm und schrien ständig nach Schnaps. Zum Schluss sah ihre Haut aus wie Pergament. Ihre Gesichter waren derart eingefallen, dass sie die Größe von Kindergesichtern hatten. Die Augen klein wie die von Vögeln. Sie grinsten uns so unheimlich an, als wir sie eines Morgens tot fanden. Nur Ryberg und ich überlebten. Am achten Tag fing es an zu regnen, das rettete unser Leben. Am zehnten Tag fand uns ein Schiff.«
    Thomsen schob den Teller von sich.
    »Ich sehe, Sie sind blass geworden. Wollen wir auf den Kaffee verzichten und an Deck ein bisschen frische Luft schnappen?«
    Carl wäre am liebsten allein gewesen, aber er spürte, dass er das Angebot des Kapitäns nicht ausschlagen konnte.
    Die Mannschaft verlud im Laderaum Tranfässer. Der Steuermann stand an der Luke und schrie ihnen seine Befehle zu.
     
    Auf der anderen Seite des Hafens hatten sie den toten Wal zerteilt, die gewaltigen Speckmassen lagen in großen unförmigen Haufen an Deck des Walfängers, auf dem unter den Kesseln der Trankocher das Feuer loderte. Das Wasser im Hafen überzog eine dünne Schicht dunkelroten Bluts. Der Gestank war atemberaubend. Carl hielt sich eine Hand vor die Nase.
    »Ich glaube, der Wal lebte noch, als sie anfingen, ihn zu zerteilen«, sagte er.
    »Gut möglich. Aber ein großer Unterschied ist es nicht. Wale fühlen ohnehin nichts.«
    »Meinen Sie, Wale haben kein Nervensystem?«
    Der Kapitän sah einen Moment unsicher aus.
    »Das will ich doch nicht hoffen«, sagte er. »Der Gedanke wäre ja nicht zu ertragen.«
     
    C arl segelte mit der Peru die Westküste Grönlands

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