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Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)

Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)

Titel: Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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angesegelt, ja, manchmal schwimmen sie sogar heran – und bieten sich an. Genauso ist es hier in Grönland, na ja, sie schwimmen nicht gerade, aber das Resultat ist das Gleiche. Das bringt einen Höllenlärm an Bord. Aber dank Ihnen werden wir endlich wieder zu unserer Nachtruhe kommen.«
    »Sie meinen, Sie lassen an Bord unzüchtige Handlungen zu?«
    »Zulassen, zulassen. Ich kann da nichts machen, wenn ich keine Meuterei am Hals haben will. Zwei Dinge gibt es im Leben, mit denen wir lernen müssen zu leben, Rasmussen. Das eine ist der Aberglaube, darin hat Berendtsen offenbar gerade eine Lektion erhalten. Das andere sind die natürlichen Bedürfnisse von Männern. Was glauben Sie denn, wie wir sonst Männer überreden könnten, für eine elende Heuer hier oben in der Eiswüste herumzusegeln? Die Eskimos finden nichts Falsches daran. Und die Männer auch nicht. Mich kostet es meinen Nachtschlaf, dafür habe ich aber nie Probleme mit der Mannschaft. Es gibt nichts Besseres als eine weibliche Umarmung, um einem Mann den Drang zur Rebellion auszutreiben.«
    Carl erwiderte nichts. Johan Mørk hatte ihm von dem liederlichen Leben erzählt, das sich im Winter in den Torfhütten abspielte. Jetzt waren die Torfhütten zu ihm gekommen. Alle wussten es, alle außer ihm. Er wollte das Schöne und Gute malen. Er wollte den Geist erheben und erbauen. Aber war Blindheit eine Methode? Taubheit?
    Wenn sie im Hafen lagen, hatte er nachts häufig ein animalisches Stöhnen und Seufzen gehört. In seiner Naivität hatte er geglaubt, es handelte sich um Robben, die an der Wasseroberfäche prusteten, doch stattdessen waren es Seeleute, die sich in ihren Kojen mit den Töchtern der Eskimos paarten. Er fühlte sich von allen Seiten belagert. Am liebsten hätte er Zufucht in seiner Kajüte gesucht und wäre dort geblieben, bis die Peru Kopenhagen anlief.
     
    Noch während die Peru außerhalb Godthåbs vor Anker lag, hatte Carl einen Albtraum: Er wurde von einem Mahr geritten, der ihn zu einem Tier erniedrigte und ihn zu dem gleichen unappetitlichen Paarungsakt zwang, den er unfreiwillig auf der Reise entlang der grönländischen Westküste hatte mit anhören müssen.
    Es war einer dieser halb bewussten Träume, in denen die Linie zwischen Traum und Wirklichkeit so dünn wie Papier ist und man ständig versucht, sie zu durchbrechen, ja, verzweifelt darum bittet, in den Wachzustand zurückkehren zu dürfen. Doch jede neue Öffnung erweist sich als Falltür. Man stürzt hinunter und wird nur noch tiefer begraben. Der Ausgang aus dem einen Traum ist lediglich der Eingang zu einem weiteren.
    Und im Gegensatz zu allen anderen Träumen, die Carl je gehabt hatte, gab es keinerlei Erscheinungen, keine verzerrenden oder wirklichkeitsgetreuen Bilder. Es gab nur eine bodenlose Dunkelheit.
    Er erwachte. Aber es war nur der Beginn des Traums, ein infamer Betrug, den der Geist an dem Schlafenden begeht, wenn er auf den dunklen Wegen der Nacht geht – vorzugeben, dass man erwacht und zu sich selbst zurückkehrt. All dies geschieht ausschließlich, um sicherzugehen, dass der Betrug umso stärker wirkt, umso erschreckender ist für den letzten Rest der Vernunft.
    Er konnte in der Dunkelheit der Kajüte nichts sehen. Er hatte es bereits früher bemerkt. Die Kajüte hatte kein Skylight, und wenn er die Tür schloss, gab es nirgendwo auch nur den kleinsten Spalt, der dem Licht Zugang verschaffte. Stets hatte er die schwarze Nacht, die selbst gegen Mittag in der Kajüte herrschen konnte, als ein Zeugnis des handwerklichen Könnens der Schiffszimmerleute angesehen. Jetzt schuf dieses Können die Kulisse für seinen Traum: eine undurchdringliche Dunkelheit.
    Er hörte einen Laut. Es klang, als würde jemand atmen.
    »Jonas?«, fragte er zögernd.
    Er wusste nicht, wieso er fragte. In Träumen gibt es niemals ein Wieso.
    Dann spürte er den Geruch, überwältigend und streng. Vermischt mit Salz und See, als wäre jemand gerade dem Meer entstiegen, aber auch mit dem herben Anfug von uraltem Schweiß, den selbst das Meer nicht hatte abwaschen können. Es stank nach Tran, Raubtier und Moschus, und es gab noch einen Duft, den er erst später identifizieren konnte, nach feischlicher Erregung, nach brünstigem weiblichem Geschlecht.
    Er dachte, ein Fabelwesen wäre in seine Kajüte eingedrungen, Meeres- und Landtier zugleich. Vielleicht fand sich auch eine Spur Mensch darin.
    Dann legte sich das Wesen in seiner Koje über ihn. Carl spürte den nassen Pelz im Gesicht.

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