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Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)

Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)

Titel: Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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weitererzählen sollen. Er hatte bei Assessor Clausen in Ærøskøbing ein paar Schmuggler aus Marstal angezeigt, die ihr Versteck auf dem Dachboden des Schmieds von Ommel hatten. Clausen wollte halb Marstal einsperren. Aber die Marstaller kamen ihm zuvor und schafften zwanzig Wagenladungen in einer Nacht beiseite, sodass der Assessor mit einer langen Nase dastand.
    Den Ohren des Klotschenmanns erging es umgekehrt. Sie wurden kürzer.
    Als sie ihre Geschichte beendet hatten, lachte der ganze Haufen laut los.
     
    Den Besuch beim Klotschenmann hatten sich die Jungen als Geschenk für Carl gedacht. Sie gingen davon aus, dass die gestutzten Ohren des Klotschenmanns einen Zeichner interessieren müssten. Diese Art von Kuriositäten hielten sie für Sehenswürdigkeiten.
    In der Kongensgade zeigten sie ihm ein Schild im Parterrefenster des reichen Schiffsreeders Kromann, auf dem jeden Tag zur Mittagszeit mitgeteilt wurde, was die Familie zu essen bekam. Der Schiffsreeder war all die Neugierigen leid, die ständig ihre Nasen an seiner Fensterscheibe platt drückten, um zu sehen, was man auf dem großen Mahagonitisch in der Mitte des Zimmers servierte. Nun ließ er täglich eine offizielle Mitteilung über die Speisefolge aufsetzen. An diesem Tag gab es Holunderbeerensuppe und Fischragout.
    »Mit Speckwürfeln«, sagte Niels Peter.
    Speckwürfel gab es nur bei den Reichen.
    Im Hafen zeigten sie ihm den Sandgräber Store Hans, der das ganze Jahr über mit dem gleichen Südwester herumlief; er drehte ihn je nach Jahreszeit um, sodass mal sein bärtiges Gesicht vor der Sonne, mal sein Nacken gegen Regen geschützt wurde. Schuhe kannte er nicht, und gern ging er auch nur in seiner grauen gewebten Unterhose spazieren.
    Auf einem Dachboden in der Korsgade präsentierten sie Carl ein Paar gewaltige Seestiefel, die nicht mehr benutzt wurden. Bei Sturm, wenn der Wind am Giebel rüttelte, fingen die leeren Stiefel an zu leben und marschierten von allein herum. Sie hatten Alberts Vater Laurids gehört, der sie zurückgelassen hatte, als er auf seine letzte Reise ging.
    »Zeichne sie«, sagten sie und zeigten auf die Stiefel.
    Sie wollten ihm so gern imponieren und versuchten es mit den kindlichsten Tricks.
    Sie verstanden nicht, dass es ihm um mehr ging, als nur geschickt mit dem Bleistift umzugehen. Die Kunst war eine Sache, Kuriositäten eine andere. Abgeschnittene Ohren, ein Mann in Unterhose, ein Paar leerer Stiefel – ein Künstler musste sich würdigere Motive suchen.
    Wenn sie bei der Führung eine Pause einlegten, schaute Carl in den Himmel und betrachtete die Wolken, die wandernden, unbeständigen Wolken, die zu ihm über etwas Höheres und Ewiges sprachen.
     
    Den größten Teil des Sommers trafen sie sich auf halbem Weg zwischen den beiden Orten, auf dem Lindesbjerg, einem hohen Hügel, von dem aus sie fast die ganze Insel übersehen konnten. Carl kam dorthin, um das Zeichnen von Perspektiven zu üben. Statt quer über die Insel zu laufen, ging er südlich, über Noret, und folgte der neu angelegten Dammanlage. Der trockengelegte Meeresboden lag grau auf der einen Seite und wartete darauf, von den Pfanzen des Landes erobert zu werden. Häufig legte er ein Stück des Wegs auf einem Pferdewagen zurück, der, mit einer schweren Last Feldsteine beladen, dahinrumpelte. Die Steine stammten von den zahlreichen Steinzeitgräbern der Insel. Sie wurden in den Hafen von Marstal gebracht, wo sie zu einem Teil jener Mole wurden, an der die Einwohner seit dreißig Jahren bauten.
    Die Jungen aus Marstal erschienen immer außer Atem am Treffpunkt. Sie waren den ganzen Weg um die Wette gelaufen, obwohl es Große und Kleine unter ihnen gab. Nur der dicke Lorentz tauchte nicht auf. Er konnte nicht mithalten und hatte eingesehen, dass die anderen schon wieder aufgebrochen wären, lange bevor er überhaupt ankam.
    Auf dem Gipfel des Hügels standen drei gewaltige Steine, auf denen wie ein Deckel ein noch größerer Stein lag: eines der Steinzeitgräber, das die plündernden Marstaller verschont hatten. Die Jungen kletterten oft auf den Steindeckel, obwohl er kaum genügend Platz für alle bot. Lange mussten sie sich schubsen, bis alle um Carl und seinen Skizzenblock einen Sitzplatz gefunden hatten.
    Im Osten konnten sie die Steilküste bei Drejet sehen. Noch weiter entfernt lag Langeland mit der majestätischen Steilküste von Ristinge, wo niemand von ihnen je gewesen war. Sie sahen das fache Haff, das einst die Insel geteilt hatte. Dahinter

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