Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)
lag Ommelshoved, eine lange und dünne Landzunge, die aus der Entfernung fast wie eine eigene Insel anmutete. Die Kirche von Rise und die Kirchturmspitze von Ærøskøbing erhoben sich zwischen Baumkronen auf weit entfernten Feldern. Im Süden breitete sich die große Fläche der Ostsee aus. Auf der anderen Seite lag das Inselmeer mit seinen Werdern und kleinen grünen Inseln. Weit entfernt sah man Fünen wie einen bläulichen Schatten. Überall waren Segel zu erkennen, die weiß auf dem Wasser leuchteten.
Die Jungen verstummten jetzt, Carl führte das Wort. Er erzählte ihnen, dass er eines Tages ein Maler sein wollte, der den ganzen Tag mit seinem Skizzenblock dasitzen oder vor einer Leinwand stehen konnte. Sie sagten nichts, und während er redete, verstand er, dass er etwas besaß, was sie nicht hatten. Er hatte ein Ziel. Er hatte Pläne für die Zukunft, während ihr Schicksal längst vorbestimmt war. Es wartete dort draußen auf dem Meer, das sich zu allen Seiten ausbreitete. Sie waren die Söhne von Seeleuten, und sie würden ihren Vätern aufs Meer folgen. Sie wussten durchaus, dass man einen Kurs abstecken musste, um ein Schiff sicher übers Meer zu führen, aber wenn es um ihr eigenes Leben ging, trieben sie vor dem Wind.
Aber auch im Menschen gibt es eine Kompassnadel, und jedes Mal, wenn er den Kohlestift über das Papier führte, spürte er, dass er die Kompassnadel zeichnete. Er würde kein Schneider werden wie sein Vater. Er hatte sich in seinem Leben ein eigenes Ziel gesetzt.
Albert erkundigte sich, ob er außer dem Buch, das er bei ihrer ersten Begegnung in der Jackentasche gehabt hatte, noch andere Bücher besäße. Als sie sich das nächste Mal auf dem Lindesbjerg trafen, brachte Carl einen Band der Odyssee mit, den er sich von Hinrichsen geliehen hatte. Er erzählte, dass es sich um einen Bericht über einen Seemann und einen Krieger handelte. Den Anfang wollte er überspringen. Das wäre nichts für sie, meinte er. Darin würde nur beschrieben, wie Odysseus’ Frau und sein Sohn auf ihn warteten, als der Held zwanzig Jahre fort war, und das wäre ihnen sicher zu langweilig.
Albert erwiderte, dass er den Teil trotzdem gern hören würde.
Carl hatte eine Weile vorgelesen, als Albert ihn unterbrach.
»Wieso glaubt Telemachos eigentlich, dass sein Vater noch lebt, wenn er ihn zwanzig Jahre nicht gesehen hat?«
»Weil er treu ist. Er will seinen Vater nicht im Stich lassen.«
»Na ja, aber er hat ihn doch noch nie gesehen.«
»Trotzdem ist Odysseus sein Vater.«
Der Junge blickte zu Boden. Lange saß er so da, und Carl hatte den Eindruck, dass er nicht mehr zuhörte.
Es war Sommer und der Himmel jeden Tag wolkenlos. Aber die Jungen trieben sich nicht wie sonst am Strand oder am Hafen herum. Stattdessen trafen sie sich auf dem Lindesbjerg. Ein paar Fremde tauchten in dem abschüssigen Gerstenfeld auf. Sie kamen von den umliegenden Höfen und blieben ein Stück entfernt stehen, bereit fortzulaufen. Eigentlich gehörte das Territorium ihnen, aber der Ruf der rauen Marstaller Jungen hielt sie auf Abstand. Erst als Carl sie mit einer Handbewegung einlud, näher zu kommen, traten sie zögernd heran und setzten sich am Fuß der Steine ins Gras, in Hörweite, aber doch in sicherem Abstand. Sie verhielten sich ganz ruhig. Carl las weiter, und bald hörten beide Gruppen, die sich sonst als Erzfeinde gegenüberstanden, vereint der Geschichte zu.
Eines Tages zeichnete er sie. Sie saßen im Kreis um den Steinhügel, die Jungen aus Marstal vorn, die Bauernjungen an der Seite, aber doch dicht beieinander, die Gesichter ihm zugewandt. Von oben, von der Steinplatte aus gesehen, wirkten sie wie eine einzige Gruppe. So zeichnete er sie, mit Gesichtern, die sich alle auf ein unsichtbares Zentrum konzentrierten. Es schien, als hätte eine liebevolle Hand ihre Züge geglättet. Die Jungen aus Marstall waren nicht mehr lädiert. Die Wunden und Beulen, die sie sonst verunstalteten, waren verschwunden. Ihre Gesichter leuchteten in einem inneren Frieden. Er konnte die Kinder in ihnen erkennen. In der Ferne lag die Steilküste von Vejsnæs. Das Meer war gesprenkelt von Schatten vorbeitreibender Kumuluswolken. Das reife, samtweiche Gerstenfeld wogte in der Sonne. Er fing alles ein.
Als er seine Zeichnung beendet hatte, sprang er herunter. Die Jungen umringten ihn, um sich die Skizze anzusehen. Niemand sagte etwas. Die Bauernsöhne rochen nach Schweiß und Vieh. Plötzlich wusste Carl, dass die Jungen aus
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