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Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)

Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)

Titel: Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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Marstal es zum ersten Mal zuließen, ihnen so nahe zu kommen, ohne dass sie anfingen, die Bauernjungen zu verprügeln. Das bedeutete ihr Schweigen: Als er vorlas, hatten sie für einen Moment ein Erlebnis gehabt, das sie vergessen ließ, wer sie waren.
     
    Die Zeichnung hatte er aufgehoben. Technisch war sie bei weitem nicht perfekt, den Gesichtern fehlte Individualität. Er behielt sie, nicht, weil er stolz auf seine Fertigkeiten gewesen wäre. Aber durch diese Zeichnung fand er zu seiner Kunst.
    Er selbst stellte darin nichts anderes dar als ein Kraftfeld, das die Seelen anzog. Nicht er lenkte ihre Blicke in die gleiche Richtung. Seine Lesung vereinte sie. In diesem Augenblick hatte er die Kunst begriffen.
    Er hatte die Kompassnadel gezeichnet.
     
    Noch gab es Sonnentage, aber selten ohne Wind, es regnete immer häufiger. Der Horizont wurde von fernen Schauern verschleiert. Die Aussicht reichte weit genug, dass sie sehen konnten, wie der erwartete Herbst sich aus weiter Ferne näherte und die Insel umkreiste, bevor er sich mit seinen Stürmen und eiskalten Regenschauern auf sie stürzte. Der Himmel lieferte das Schlachtfeld, auf dem sich die Jahreszeiten trafen und die große Wende vorbereitet wurde. Carl nannte den Jungen die Namen der Wolken. Überwiegend handelte es sich um Kumuluswolken. Dann folgten die grauen Stratuswolken, die sich wie ein facher Deckel über die Insel legten.
    Ihre Hände wurden rot vor Kälte. Die Gesichter zeigten sich wieder entstellt von Schrammen. Es gab neue, frische Wunden, er hielt sie für ein Zeugnis der Wildheit, die sie zu bändigen schienen, wenn er in der Nähe war.
    Die Zeit war gekommen, den Lindesbjerg zu verlassen. Sie zogen sich ins fachere Land zurück, wo sie dem wechselhaften Wetter weniger ausgesetzt waren. Sie sahen sich jetzt nicht mehr so häufig wie bisher. Der Sommer hatte ihnen als Treffpunkt gedient, nicht der steinbedeckte Hügel auf der Hälfte des Weges zwischen den beiden Städten.
    Und doch schloss nicht der Herbst die Tür zwischen Carl und den Jungen aus Marstal.
     
    Es geschah an jenem Tag, an dem sie sich zum letzten Mal auf dem Lindesbjerg trafen. Johan und Josef waren nicht mitgekommen. Vielleicht passierte es deshalb.
    Der Regen fiel gleichmäßig und schwer, Wind kam auf. Die Wolken fegten über sie hinweg, als ob dort oben ein noch stärkerer, unbändigerer Sturm im Hinterhalt läge. Die Bauernjungen ließen sich nicht blicken, und schon bald war auch die Sicht auf das Meer im Nebelregen verschwunden.
    Carl begleitete die Jungen auf dem Rückweg nach Marstal. Er hätte ebenso gut umdrehen und in Ærøskøbing Schutz vor dem Regen suchen können, aber plötzlich überkam ihn ein Unwille bei dem Gedanken an Zuhause. Vielleicht wollte er auch sein Publikum nicht verlieren.
    Sie hatten die Hügel bei Drejet hinter sich gelassen und gingen in Richtung Midtmarken, als sie mitten auf einem der schwarzen Äcker ein merkwürdiges Wesen bemerkten, das für einen Menschen zu stämmig und viereckig schien. Irgendein Tier konnten sie darin allerdings auch nicht erkennen. Im Grunde war es lediglich diese langsame Vorwärtsbewegung, die sie davon überzeugte, dass es sich nicht um einen abgestorbenen Pappelstubben auf dem Acker handelte. Der Regen fiel jetzt dichter als zuvor, und das Wesen fimmerte vor ihren Augen, als ob es sich jeden Moment aufösen könnte. Sie blieben stehen und schüttelten sich, unentschlossen zwischen unwiderstehlicher Neugier und einem ebenso unwiderstehlichen Drang wegzulaufen. Schließlich siegte ihre Neugierde und sie rannten über den Acker, dessen schwarzer, aufgeweichter Boden ihr Tempo verlangsamte.
    Carl bemerkte, wie sie sich mit Blicken taxierten, bevor sie losrannten. Es war eine Probe, der sie sich gegenseitig aussetzten. Hier durfte sich niemand erlauben, Angst zu zeigen. Der Haufen würde sofort über ihn herfallen. Carl gehörte nicht dazu; er wusste, dass sie ihn später nicht danach beurteilen würden, ob er ihnen nun folgte oder nicht.
    Die Jungen duckten sich und liefen auf die nächste Hecke zu. Von dort rückten sie mit gespannten Gesichtern vorsichtig vor. Der kleine Anders kicherte plötzlich. Es klang wie ein ängstliches Keuchen, das sich als Lachen verkleidete. Die anderen zischten ihn nieder. Sie konnten aus nächster Nähe ein Geräusch hören. Zunächst erkannte Carl es nicht wieder. Schrie da ein Vogel? Jaulte ein Tier? Das Geräusch war so eigenartig wie das Wesen, an das sie sich heranschlichen. Dann

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