Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)
endlich vor einem lebenden Model stehen.«
Er lachte abwehrend, als er Carls bestürzten Gesichtsausdruck sah.
»Nun, ganz so schlimm geht es nicht zu. Aber Sie werden reichlich Gelegenheit bekommen, sich zu langweilen. Ihre Geduld wird auf die Probe gestellt werden. ›Alles nur wegen eines Weinblatts?‹, werden Sie sich möglicherweise fragen. ›Nein, alles zusammen wegen eines Königs!‹, antworte ich. Halten Sie aus! Halten Sie aus! Denn den Stempel der Akademie brauchen Sie. Sonst wird es nichts. Auf der Akademie arbeiten Sie mit anderen. Eine Autorität übernimmt die Verantwortung für Ihre Entwicklung. Allein wäre die Last erdrückend. Man braucht ein Fundament, auf dem man stehen kann. Stehen Sie auf den Schultern von Hertzog. Ja, Sie lächeln. Ich höre selbst, wie komisch das klingt; aber stehen Sie auf den Schultern von Hertzog, dann reichen Sie am höchsten.«
Carl schaute zu Boden. Ihm hatte es wieder die Sprache verschlagen.
Sie waren beim Dessert angelangt. Die Stimmung war aufgeräumt.
Carls Verlegenheit hatte einer träumerischen Introvertiertheit Platz gemacht, die eher am Wein als an den Gesprächen lag. Das Resultat blieb allerdings dasselbe. Er trug zur Konversation nichts mehr bei.
Aagaard wurde unterdessen sehr vertraulich.
»Ich traf neulich Vermehren«, verkündete er.
»Oh, er malt doch diese hübschen Bilder über die einfachen Leute. Ich habe kürzlich Häusliche Verrichtungen in einer Bauernstube gesehen«, rief Frischs Ehefrau aus.
»Ja, unseren edlen Bauernstand, den Grundstamm unseres Volkscharakters, schildert er vortreffich«, pfichtete ihr Mann bei.
»Nun ja, wenn man’s so sehen will. Ich bin sicher, Vermehren selbst sieht es so.«
Aagaard warf einen spöttischen Blick über den Tisch.
»Tja, ich gehe davon aus, dass alles hier unter uns bleibt?«
Die Gesellschaft bestätigte es ihm neugierig.
»Ich wollte meinen eigenen Ohren kaum trauen. Wisst ihr, wie Vermehren das Model von Häusliche Verrichtungen nannte, das edle Mütterchen mit dem gottergebenen Blick? Eine alte Vettel! Alte Vetteln in einer Ecke, alte Vetteln in einer Küche, alte Vetteln überall, das ist seine Meinung über den Bauernstand. Und die Blume unserer Jugend, die gewöhnlichen Burschen und Mädchen, die Zukunft unserer Nation? Die Mädchen nannte er Schlampen! Und für die Hässlichkeit der Kerle gibt es seiner Ansicht nach überhaupt keine Grenzen. Ihre Gesichter und Figuren sind entsetzlich, sagt er. Und das ist angeblich ein Freund des gewöhnlichen Volkes. Ja, wirklich reizend!«
Aagaards Stimme klang keineswegs entrüstet. Seine hübsche Frau hatte sich zurückgelehnt und betrachtete mit verschränkten Armen und einem kleinen Lächeln im Mundwinkel die Reaktion der Runde. Sie hatte die Anekdote offensichtlich schon einmal gehört und amüsierte sich.
Holm sah aus, als wollte er etwas sagen, aber Aagaard brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen.
»Das Beste habt ihr noch gar nicht gehört.«
Sie sahen ihn erwartungsvoll an.
»Ihr kennt doch das Bild Zwei Bettlerkinder in der Bauernküche ?«
Nur Holm schüttelte den Kopf. Frischs Frau sah einen Moment aus, als wollte sie erneut einen Lobgesang auf Vermehrens Talent anstimmen, doch sie hielt sich zurück.
»Auch dort sind wir in einer Bauernküche, und es sieht ja auch alles richtig nett aus. Vermehren hatte das Bauernhaus schon eine Weile im Auge, doch als er über die Schwelle trat, war alles so dreckig und ekelhaft, dass er sich auf keinen Fall dort aufhalten wollte. Es konnte überhaupt keine Rede davon sein, die Szenerie so zu malen. Mist und Gott weiß was noch, lag schichtweise auf dem Boden. Er veranlasste eine Grundreinigung. Auch das Fenster, das ihr auf dem Gemälde seht, ist nicht das ursprüngliche. Es gab nur ein paar ins Holz gebrannte Gucklöcher, die dem Raum viel zu wenig Licht gaben. Vermehren ließ ganz neue Fenster einsetzen. Der Hof wurde praktisch umgebaut, damit er ein passendes Bild malen konnte.«
Aagaard lachte laut.
»Mir scheint, Sie widersprechen sich selbst«, wandte Holm in einem scharfen Ton ein, der überhaupt nicht zur Heiterkeit der übrigen Runde passte.
»Inwiefern?«
»Zitierten Sie nicht gerade Eckersbergs Rat an die Maler, nicht zu versuchen, mit dem Herrgott zu konkurrieren, um die Motive zu verbessern? Also werden Sie doch unmöglich Vermehrens Vorgehensweise gutheißen können?«
»Doch, das kann ich durchaus. Eckersberg spricht über die Natur. Wir sollten tatsächlich nicht
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