Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)
interessierten sie ihn nicht mehr. Wenn die erste Unschuld sich verloren hatte, schien er sie nicht mehr als echte Kinder zu betrachten, und seine Freude über ihre kleinen Dummheiten wurde von mürrischen Forderungen und Erwartungen abgelöst. Carl schlug seine Kinder nie. Aber er rief sie ständig zur Ordnung. Er wünschte sich artige Kinder und wartete ungeduldig darauf, dass sie erwachsen wurden und einen Sinn für die Kunst entwickelten, damit er seine Malerei mit ihnen diskutieren konnte.
Einmal hatte er zu Henrietta gesagt: »Deine Seele sitzt dir mitten im Gesicht. Bei dir gibt es keinen Unterschied zwischen dem Inneren und dem Äußeren.« Nur dieses eine Mal in seinem Leben hatte er dies bei einer Begegnung mit einem Menschen empfunden. Aber er musste erst alt werden, um es zu begreifen. Je mehr Jahre vergingen, desto größer wurde der Verlust, den er erlitten hatte, als Henrietta starb. Alles, was er seither hatte finden können, waren Reste und Ähnlichkeiten, nie eine ganze Henrietta. Er erkannte dies zu einem Zeitpunkt, an dem er sie aus lauter Selbstzufriedenheit beinahe schon vergessen hatte.
Sechs Monate wollte er jetzt unterwegs sein. Blieb er aus Selbstsucht so lange fort? Er hatte sich mit dieser Frage gequält, auch in seinen Gesprächen mit Anna Egidia. Schließlich hatte sie ihn ausgelacht.
»Manchmal denke ich, dass du mich auch fragen wirst, ob es selbstsüchtig von dir wäre zu sterben, wenn du auf dem Sterbebett liegst.«
Carl hatte die Bemerkung nicht komisch gefunden.
»Wünschst du dir meinen Tod?«, hatte er gefragt.
Anna Egidia hatte den Blick niedergeschlagen, und wie so oft war ihre Unterhaltung ins Stocken geraten.
Sie hielt sich ja tapfer. Acht Kinder. Ihr Schicksal unterschied sich nicht sonderlich von dem der Seemannsfrauen in der Stadt. Doch sie war keine Seemannsfrau. Sie hatte das Recht auf ein bequemeres Leben. Er wusste, was er ihr schuldete. Aber er wusste es am besten aus der Entfernung. Aus der Nähe sah er meist nur seine Leinwände und deren Forderungen an ihn.
Als ein kleiner Künstler hätte er mit seiner Familie harmonisch leben können. Als großer Künstler hätte er rücksichtslos seine eigenen Ziele verfolgt, denn die Kunst erforderte Rücksichtslosigkeit. Aber er war nicht rücksichtslos. Stattdessen überschüttete er Anna Egidia mit Vorwürfen, die im Grunde eher verdeckte Selbstvorwürfe waren.
Carl wusste es, wenn er in der Koje lag und von seinen Gedanken gequält wurde. Aber er vergaß es sofort, wenn er den Stift in der Hand hielt und ihr schrieb.
Er erinnerte sich an seinen Sommer an Bord der Anne Cathrine. Welch ein Unterschied bestand zwischen damals und heute. Er hatte einen Ruf gehört. Er hatte einen Pakt geschlossen. Er war seither klüger geworden, aber ein Mensch wird nicht besser, nur weil er klüger wird. Was er an Erfahrung gewonnen hatte, hatte er an Unschuld verloren, und für ihn waren Unschuld und Talent dasselbe.
Es ließ sich an seinen Bildern erkennen.
Ankunft
A m fünfzehnten Juni lagen sie vor Godhavn, und die Lotsenfagge wurde gehisst. Wenigstens in dieser Nacht hatte Carl durchgeschlafen, sein Appetit war zurückgekehrt. Die Sonne schien, und er ging an Deck. Die frische Seeluft tat ihm gut, zufrieden atmete er tief ein, um nach dem langen Aufenthalt in der Koje die Luft in die Lungen strömen zu lassen. Er aquarellierte einen vorbeischwimmenden Eisberg. Ermuntert über das ansehnliche Resultat begann er mit einer Skizze von Kapitän Thomsen, der gutmütig eingewilligt hatte, ihm auf dem Lukenrand Modell zu sitzen. Wie gewöhnlich hielt er seine Stricknadeln in den Händen. Carl bat ihn, sie beiseite zu legen.
»Wir sind ja nicht auf Fanø. Hier achtet niemand darauf, ob Sie etwas zu tun haben.«
»Doch, ich schon. Ich habe mir selbst eine Quote verordnet. Zwei Paar die Woche. Ich bin im Rückstand.«
Das runde Gesicht des Kapitäns erstrahlte in einem Lächeln.
»Machen Sie eine Pause«, sagte Carl.
Thomsen legte das Strickzeug auf die Luke. Carl musste jedoch schon bald aufhören. Seine Finger wurden ihm zu kalt. Er zuckte bedauernd die Achseln und pustete auf die steifgefrorenen Fingerglieder.
Gegen Abend faute der Wind ab, das Schiff kam nicht voran, und er wurde wieder von seinen düsteren Gedanken übermannt. Bevor er einschlief, war er sicher, dass die Zukunft nichts Gutes bringen würde. War es Selbstsucht, sich tot zu wünschen? Wen ließ er denn eigentlich im Stich, wenn er starb?
Er hatte
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