Rasputins Erbe
wollte keine Schwäche zeigen. Nicht vor Verena und vor allem nicht vor sich selbst.
„Hey, guck' mal. Da ist noch so ein Kleid, in das ich nie wieder reinpassen werde“, sagte Verena säuerlich. Julia ergriff die Chance, um sich von ihrem eigenen Problem abzulenken. „Ach, was“, begann sie, „sag niemals nie. In spätestens fünf Jahren kannst du so etwas wieder tragen.“
Verena schaute sie stirnrunzelnd an und erwiderte: „Haha. Sehr witzig. Du kannst ja auch alles tragen. Ich meine es ernst. Solange ich zu Hause sitze, realisiere ich nicht wirklich, wie eingeschränkt mein Leben eigentlich geworden ist. Aber hier draußen“, Verena schaute sich entmutigt um, „fühle ich mich einfach nur fett und unförmig.“
Julia versuchte es mit Diplomatie: „Erinnerst du dich noch an früher? Ich meine, vor knapp einem Jahr. Da hatten wir ungefähr die gleiche Figur, oder?“
„Na ja“, meinte Verena skeptisch und sie ahnte, dass Julia ihr Honig ums Maul schmieren wollte, damit sie nicht weiter rumquengelte.
„Doch, doch. Wie wäre es, wenn du dir die Sachen im Schaufenster anschaust und wir probieren die Klamotten gemeinsam an, falls dir etwas gefällt? Ich meine, ich ziehe es dann für dich an. Du kannst die Sachen zwar jetzt noch nicht tragen, aber dafür dann im nächsten Jahr. Klingt doch motivierend, oder?“, sagte Julia fröhlich.
„Na ja“, wiederholte Verena, „aber fett bin ich trotzdem, das musst du zugeben.“
Julia lachte. „Ja, stimmt. Du siehst aus, wie ein zu kurz geratenes Michelinmännchen. Die Mütze macht es übrigens auch nicht besser.“ Sie standen vor dem Schaufenster eines hemmungslos überfüllten Schuhgeschäfts und begutachteten ihr lächerliches Spiegelbild.
Verena grinste endlich und gab sich geschlagen. Sie überlegte, dass sie nach der Geburt der Zwillinge am besten wieder zu Balu ins Yogastudio gehen würde.
Sie schlenderten weiter und unterhielten sich wieder einmal über Verenas Sexualleben. Obwohl Julia ihre Erzählungen sonst stets aufdringlich und unangenehm fand, war es ihr heute egal. Besser hätte der Tag für sie nicht laufen können, vor allem nach dem Desaster vom Vortag, stellte sie grimmig fest.
„DAS ist es“, rief Verena plötzlich und stapfte so schnell es ging in Richtung eines Schaufensters, in dem nur einige ausgewählte Kleidungsstücke gezeigt wurden.
Verena nickte in Richtung eines dunkelblauen Kleides, das raffiniert geschnitten war und fast so viel kostete wie Julias halber Monatslohn.
Julia wusste, dass es ein sauteurer Designerladen war, denn sie hatte in ihrer Mittagspause immer wieder damit geliebäugelt, sich dort etwas für ihre kleinen Karrieresprünge zu gönnen.
Schließlich war sie tatsächlich reingegangen und hatte den Laden nach einer knappen halben Stunde mit einem edlen Schuhkarton verlassen. Julia wunderte sich, dass das bloß ein paar Wochen hergewesen war. Sie war gespannt, ob die Verkäuferin sie wiedererkennen würde.
Ja, sie erkannte sie wieder. Julia und ihre beste Freundin erwartete ein gezwungenes Lächeln einer blutjungen Verkäuferin, die wie aus dem Ei gepellt aussah.
Die Frau wunderte sich offenbar, was die hochschwangere Verena in dem feinen Laden zu suchen hatte, denn sie trödelte ein paar Sekunden, bevor sie das ungleiche Paar begrüßte. Noch dazu hatten die beiden immer noch ihre bescheuerten Nikolausmützen an, die munter blinkten.
„Wie kann ich Ihnen weiterhelfen?“, fragte sie und schaute erst Julia und dann Verena an. Julia hatte genügend Menschenkenntnis, um zu verstehen, dass die Verkäuferin sich beim besten Willen nicht vorstellen konnte, was eine Frau mit Verenas Ausmaßen in dem Designerladen wollte.
Sie hoffte, dass Verena das nicht bemerkte und sagte an die Verkäuferin gewandt: „Wir, äh, ich meine, ich möchte gern dieses Kleid dort anprobieren.“ Julia zeigte auf das Kleid im Schaufenster.
Wenn die arrogante Frau sich nicht an Julia und die Größe ihres Geldbeutels erinnert hätte, wäre sie vermutlich davon ausgegangen, dass sie auf den Arm genommen wurde.
Aber die Verkäuferin gehorchte, ignorierte die absurden Weihnachtsmützen und holte, nun etwas freundlicher lächelnd, das Kleid aus dem Schaufenster. Sie zeigte Julia und Verena die Umkleidekabine.
„Ach, das hätte ich fast vergessen“, rief sie ihnen händeringend hinterher. Julia und Verena drehten sich um. Die Verkäuferin fragte mit roten Kopf: „Möchten Sie vielleicht etwas trinken? Einen Kaffee, ein Wasser?
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