Rassenwahn: Kriminalroman (German Edition)
Übung war,
zum anderen, weil er jeden Knochen im Leib spürte. Er klemmte die hellbraune Ledertasche
unter den rechten Arm und versuchte, mit Frau Kassner Schritt zu halten. Sie eilte
jede Stufe behände und elegant, vor allem zügig, empor. Mit jedem Tritt ließ sie
ein weithin zu hörendes Klackern auf dem Boden verlauten. Sie kamen zu einem Raum,
auf dessen Schild neben der Tür Kürzel zu lesen waren, die man nur als Kundiger
zu entziffern wusste.
Martin folgte
der Dame im grauen Kostüm in den schmucklosen Raum hinein. Es war ein großer, rechteckiger
Saal mit zehn Reihen von Aktenschränken, die bis zur Decke reichten. Dahinter standen
drei quadratische einfache Tische mit einem PC und einem alten Röhrenmonitor darauf
und jeweils zwei Holzstühlen davor. Martin ließ seine Tasche auf den ersten der
Tische fallen und gab sich für eine kurze Zeit der Resignation hin, die sich seines
Inneren zu bemächtigen drohte. Dieser Gebäudekomplex beherbergte gegen elf Millionen
Karteikarten, Einträge oder Aktennotizen zu sogenannten NS-Belasteten; Mitgliedern
der NSDAP und sämtlichen Unterorganisationen.
Frau Kassner
unterbrach Martins Schwermutsattacke. Sie rieb sich die Hände, als fühle sie sich
zwischen den Reihen der Verstorbenen wohl. Für sie waren es viel mehr als nur Akten
mit Namen. Für sie war es lebendige Geschichte. Millionen kleiner Puzzleteilchen,
die nach Zuordnung und Komplettierung verlangten. Die ein Bild hervorbringen sollten,
vor dem man zunächst einige Meter zurückwich. Ein düsteres Gemälde aus einer Epoche
der Menschheitsgeschichte, in welcher der Teufel in Form eines kleinen, schnauzbärtigen,
korrekt gescheitelten Österreichers regierte.
Ingeborg
klatschte die zierlichen weißen Finger gegeneinander, um Martin aus der Erstarrung
zu befreien.
»Also, Herr
Kommissar. Wo fangen wir an?« Martin ließ sich auf den Stuhl fallen und sah zu Frau
Kassner auf. Seine Nase sonderte Sekret ab, das er kurzerhand hochzog und in die
Nebenhöhlen katapultierte. »Ich weiß es, ehrlich gesagt, nicht. Bitte, setzen Sie
sich einen Augenblick.« Martin öffnete die Aktentasche und holte alle Unterlagen
hervor, die er mitgebracht hatte. Dazu gehörten die Akten der verstorbenen und noch
lebenden Lebensbornkinder sowie die der drei Nazis Wegleiter, Fürst und Strocka.
Der Ordner, den er sich zu Professor Keller angelegt hatte, bekam einen besonderen
Platz auf der rechten Seite des Tisches.
»Wie viel
dürfen Sie mir denn davon erzählen?« Frau Kassner deutete auf den Stapel der vor
ihr liegenden Akten. »Sind das nicht vertrauliche Ermittlungsergebnisse?«, hakte
sie nach. Das Interesse an kriminologischen Dingen schien in Ingeborg Kassner erwacht
zu sein, doch in Martins Gesicht las sie eine Mischung aus Gleichgültigkeit und
Frustration.
»Genau genommen,
erwarte ich ja, diese Ergebnisse hier zu finden. Sie stehen unter Schweigepflicht,
aber das wissen Sie ja, nehme ich an.« Ingeborg kaute auf einem abgebrochenen Fingernagel
herum, eine Geste, die Martin normalerweise nur von Teenies kannte.
Die Uhr
zeigte 12.45 Uhr, als sich der erste Hunger in seinem Magen meldete und er die Geschichte
von Tätern und Opfern darzulegen begann. Er ignorierte das Knurren und schlug die
erste Akte auf.
»Es gab
vor zwei Jahren einen Prozess von ehemaligen Lebensbornkindern, die nach norwegischem
Modell auf zugegebenermaßen stümperhafte Weise versucht haben, eine Art Abfindung
oder Wiedergutmachung seitens des deutschen Staates zu erwirken. Vielleicht haben
Sie davon in der Zeitung gelesen?«
Ingeborg
rieb sich an der Nasenspitze und dachte nach. »Ja, das hab ich. Ich habe sogar einige
der schriftlichen Anfragen der Betroffenen bearbeitet. Leider gab es zu dem Zeitpunkt
noch nicht so viele Unterlagen.«
»Wieso?
Gibt es denn jetzt mehr?«
»Allerdings.
Ich habe Ihnen doch von den 1.000 Akten der in Lebensbornheimen Geborenen erzählt,
die 1998 hier einsortiert worden sind. Vor Kurzem sind noch einmal circa 300 neue
dazugekommen. Täglich erreichen uns Anfragen zu familiengeschichtlichen Hintergründen,
weil gelegentlich Unterlagen gefunden werden, die dann hier landen.«
»Woher stammen
denn diese neuen Unterlagen?«
»Nun, es
werden verschollene Daten, Notizen oder Tagebucheinträge in Nachlässen gefunden.
Auf Dachböden, in alten Truhen, in Kellerverschlägen und so weiter. Fotos, Wehrmachtsausweise,
SS-Mitgliedschaftsnachweise und natürlich auch haufenweise unnützes Zeug.«
Pohlmann
stand von dem
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