Rassenwahn: Kriminalroman (German Edition)
gehört?«
Martin nickte.
»Die Aktion T4 beinhaltete die Ermordung von circa 100.000 Psychiatriepatienten
oder behinderten Menschen durch SS-Ärzte und Pflegekräfte. Die Morde wurden nie
offiziell als solche beschrieben. Es ist immer von natürlichen Todesursachen die
Rede, nie von Mord. Diese Ärzte standen wohl den KZ-Ärzten in nichts nach. Ohne
Skrupel experimentierten diese Unmenschen an gesunden Kindern, nur weil sie nicht
einer altersgemäßen Körpergröße entsprachen. Unter der Leitung von Prof. Mengele
ließ man diese Kinder zu Tausenden ›abspritzen‹, wie er es nannte. Man injizierte
ihnen Phenol direkt ins Herz. Nicht nur Ärzte, sondern auch Pfleger taten das. An
anderen Orten testete man den Einfluss hochdosierter Röntgenstrahlung und kastrierte
männliche Patienten regelrecht damit. Der Begriff Gnadentod wurde eingeführt, um
anzudeuten, dass man Leiden verkürzen und nicht Leben auslöschen wollte.«
Frau Kassner
nickte. Sie schien beeindruckt. »Sie wissen aber auch eine Menge für einen Kriminalkommissar.«
»Hab mal
Geschichte studiert, aber dann abgebrochen und bin zur Polizeischule gegangen.«
»Oh, wie
schade. Aber, na ja. Dafür sind Sie ein guter Polizist geworden.«
»Geht so«,
antwortete Martin verlegen. »Woher stammte der Begriff T4 eigentlich?«
»Der Name
T4 entstammt der Berliner Bürozentrale, einer Villa in der Tiergartenstraße 4. Während
der NS-Zeit befand sich in dieser Villa die Zentrale für die Leitung der Ermordung
behinderter Menschen im gesamten Deutschen Reich.«
Martin unterbrach
Ingeborg und sprach seine Gedanken aus.
»Und unser
prominenter Dr. Fürst hat eine Doktorarbeit darüber geschrieben, wie man Tuberkulosepatienten
am besten mit Luminal ins Jenseits befördert.«
»Somit ist
er eine Art Massenmörder mit weißer Weste, genauer gesagt, mit weißem Kittel.« Frau
Kassner rückte ihre Brille zurecht.
»Dem wahrscheinlich
nach dem Krieg nichts nachgewiesen wurde«, stellte Martin fest.
»Den wenigsten
ist nach dem Krieg etwas nachgewiesen worden. Die Amerikaner haben ’48 nur einen
Bruchteil der Täter verurteilt, und sehr oft gab es Urteile, die nur einen symbolischen
Strafwert hatten und mit der Untersuchungshaft bereits abgeleistet waren.«
»Jetzt wissen
wir aber immer noch nicht, ob Fürst Vater unehelicher Kinder ist oder nicht.«
Ingeborg
fuhr mit dem Cursor die Seiten ab. »Hier steht nur ein Vermerk: Als Zeugungshelfer
mindestens zweimal erfolgreich tätig.«
Pohlmann
nickte. »Ich wusste es. Können Sie mir das ganze Zeug ausdrucken lassen? Ich such
dann im Büro nach den Namen der Kinder und der Mütter.« Die körperliche Schwäche,
die sich erneut in seinen Gliedern ausbreitete, blieb Frau Kassner nicht verborgen.
»Eigentlich
dürfen wir das nicht, aber ich denke, in Ihrem Fall ist das etwas anderes. Es geht
ja um wichtige Ermittlungen. Hatten Sie nicht noch einen dritten Namen?«
»Ja, einen
dritten Nazi und eine Menge anderer Leute.« Martin raufte sich das Haar und drohte,
in dem Morast dieses Falles zu versinken. »Gerhard Strocka. Das ist der Typ, der
vor zwei Jahren während des Prozesses in seinem Hotelzimmer umgebracht wurde. Er
ist der Einzige, zu dem wir ziemlich viel Material zusammentragen konnten. Erst
gestern habe ich herausgefunden, dass er der Vater einer Frau war, die damals als
Klägerin aufgetreten ist. Sie heißt Emilie Braun, lebt heute in einer Psychiatrie
in Hamburg und ist als Hedwig Strocka 1940 im Lebensbornheim Steinhöring zur Welt
gekommen. Später ist sie nach Lüneburg in eine dieser Kinderfachabteilungen verlegt
worden und ist erstaunlicherweise, nach all dem, was über diese Tötungsanstalten
mittlerweile bekannt ist, am Leben geblieben. Danach ist sie an diverse Pflegefamilien
weitergereicht worden, doch nachdem es keine Familie lange mit ihr ausgehalten hat,
hat man sie für nicht gesellschaftsfähig erklärt und ein Gutachten verfasst, aufgrund
dessen sie dauerhaft in eine Psychiatrie eingewiesen worden war.«
Ingeborg
Kassner hörte den Ausführungen von Martin aufmerksam zu. Obwohl sie schon an vielen
Familiengeschichten und Schicksalen Anteil genommen hatte, war sie stets auf Neue
ergriffen, wenn es darum ging, dass unzählige Menschen abseits gewöhnlicher Wege
das Leben meisterten. Ihr Interesse an der Geschichte von Emilie Braun schien nicht
nur geheuchelt. »Das heißt, sie hat ihr ganzes Leben in einer Anstalt verbracht?«
»Na ja,
fast. Aus den Krankenakten geht hervor, dass sie
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