Rassenwahn: Kriminalroman (German Edition)
Anfang der Sechziger entlassen
wurde. Ein Psychiater hatte ein neues Gutachten verfasst, und sie wurde kurzerhand
für gesund erklärt. Das Problem war, dass sie es nie gelernt hatte, außerhalb der
Klinik klarzukommen. Sie genoss keine dauerhafte Erziehung von eigenen Eltern, nur
Maßregeln von sich abwechselnden Pflegeeltern, die kein wirkliches Interesse an
dem Mädchen hatten. Sie bekam einen Job in einem Supermarkt, eckte ständig bei den
Kunden und den anderen Mitarbeitern an und wurde entlassen. Sie jobbte als Kellnerin,
als Hilfskraft in einer Wäscherei, als Aushilfe in einer großen Reinigungsfirma,
und zum Schluss saß sie als Klofrau am Hauptbahnhof in Hamburg.«
»Sie sagen,
dass sie derzeit in einer Psychiatrie lebt. Warum ist sie in die Klinik eingewiesen
worden?«
»Sie wurde
straffällig. Sie hat einem Kerl ein Messer in den Bauch gerammt, als er sie … na,
Sie wissen schon, unsittlich berührt hat. Ihre Pflegerin hat mir erzählt, dass sie
bei Berührungen von anderen völlig ausrastet und niemanden an sich heranlässt. Außer
Personen, die sie wirklich gut kennt.«
Ingeborg
nickte teilnahmsvoll. Martin schnäuzte erneut, und er wunderte sich, wie viel Sekret
die Nase eines Menschen zu produzieren in der Lage ist. Der Magen knurrte ebenfalls,
und die Stirn fühlte sich heiß an. Der Blick aus dem Fenster des großen Archivs
verdüsterte seine Stimmung noch mehr, denn es dämmerte bereits. Ein Blick auf die
Uhr verriet ihm, dass er schon über zwei Stunden hier an der Seite von Ingeborg
Kassner verbracht hatte, die in dieser Zeit jegliche Arroganz abgelegt und überdies
ihre eigene Aufgaben vergessen oder zumindest verdrängt hatte. Es schien, als hätte
sie ihre Zeit nur für Martin Pohlmann und dessen Anliegen reserviert. In Wahrheit
folgte sie ihrem ausgeprägten Gewissen und hätte alles dafür getan, einigen Menschen
bei der Suche nach ihrer Identität und ihren Wurzeln zu helfen. Dann fiel ihr wieder
Emilie Braun ein. »Emilie Braun ist also die Tochter von Gerhard Strocka. Weiß sie
das?«
Pohlmann
zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Das habe ich mich auch schon gefragt. Ich
habe es erst gestern herausgefunden, als ich diese Akten in einem geheimen Fach
eines Schreibtischs gefunden hab. Ich hab mir vorgenommen, ihr diese Frage bei nächster
Gelegenheit zu stellen. Ich müsste jedoch zuvor mit dem Psychiater ein paar Worte
wechseln. Ich weiß nicht, wie so eine Frage auf sie wirken könnte.«
»Haben Sie
schon öfter mit ihr Kontakt gehabt?«
Martin nickte.
»Ich gehe dort quasi ein und aus. Sie ist Teil der Ermittlungen.« Er klopfte auf
die Tischplatte. »So. Wir müssen jetzt dringend weitermachen. Was haben Sie zu Strocka?«
Martin suchte in seiner Tasche verzweifelt nach einem letzten Taschentuch. Ingeborg
griff in ihre Handtasche und reichte ihm eine volle Packung. »Hier, nehmen Sie meine.«
Dankbar griff Martin danach.
»Hören Sie.
Ich mache Ihnen einen Vorschlag. Warum gehen Sie nicht in die Kantine und essen
etwas. Sie trinken einen starken Kaffee und ruhen sich aus. In der Zwischenzeit
suche ich alles zu den Namen heraus, die Sie mir nennen. Dann schick ich die Unterlagen
zu unserem Zentraldrucker und mache Ihnen ein schönes Rundum-sorglos-Paket fertig.
Was halten Sie davon?«
Martin sah
in ihre leuchtend blauen Augen. Er hatte sie zu Beginn völlig falsch eingeschätzt,
und nun tat es ihm leid. Ingeborg war die herzlichste und hilfsbereiteste Frau,
die er je kennengelernt hatte, und er schämte sich für seinen machomäßigen Auftritt.
Er nickte dankbar und kramte alle Unterlagen aus der Aktentasche heraus. In den
folgenden zehn Minuten erklärte er Ingeborg, wie und auf welche Weise die ehemaligen
Prozessteilnehmer ums Leben gekommen waren und dass es einen Zusammenhang zwischen
Wegleiter, Fürst, Strocka und den verstorbenen Klägern geben müsse. Er vertraute
ihr mehr Informationen an, als er hätte dürfen, doch es war ihm egal. Es mäkelte
jeder an seiner Arbeitsweise herum, und Schöller sägte an dem Stuhl, auf dem er
saß, obwohl er erst ein paar Tage wieder in Deutschland war. Er hoffte, dass sein
Vertrauen in sie nicht enttäuscht werden und Licht in diesen verwirrten Fall kommen
würde.
Kapitel 33
Berlin, 9. November 2010
Die Kantine des Archivs entpuppte
sich für Martin zu einer kraftspendenden Oase. Er aß eine große Rindsroulade mit
Kartoffeln und Gemüse. Nie zuvor erschien ihm eine stärkende Mahlzeit so willkommen
wie diese. Oder waren
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