Rassenwahn: Kriminalroman (German Edition)
ich mir sicher, ich sei drüber weg. Ich sage
mir, alles ist Kismet, weißt du, Vorhersehung, ohne unser Zutun, aber dann – an
anderen Tagen, bin ich stocksauer auf mich selbst, auf das Leben, ja vielleicht
auch auf Gott. Keine Ahnung.«
»Mann, sei
nicht so streng mit dir. Manche Dinge brauchen eben Zeit. Hast du mal daran gedacht,
noch einmal eine Therapie zu machen?«
Martin schüttelte
energisch den Kopf. »Ganz sicher nicht. Der Psychologe, mit dem Keller damals zusammengearbeitet
hat, ging mir tierisch auf die Nerven. Stocherte pausenlos in meiner Kindheit herum.
Alles Taktik, damit ich selbst die Lösung mit meinen eigenen Antworten herbeiführe.«
Martin ließ die Landschaft an sich vorbeiziehen. »Ich hatte das Gefühl, einen Blinden
vor mir zu haben, der mich an die Hand nimmt und führen will. Niemand kann dir einen
Ratschlag geben, wenn er nicht Ähnliches erlebt hat. Du wirst erst dann ein Fachmann,
wenn du selbst durch dieselbe Geschichte durch musstest. Das ist jedenfalls meine
Meinung.«
Martin ließ
den Flyer in der Tasche verschwinden und verschränkte wie ein trotziger Junge erneut
die Arme vor der Brust. Das Navigationsgerät zeigte noch 800 Meter bis zum Ziel
an. Nun lohnte es sich auch nicht mehr, die Problematik zu vertiefen. Er wollte
sich auf die Lösung der Mordfälle konzentrieren, und wenn er viel Zeit hätte – sehr
viel Zeit –, würde er sich mit sich selbst beschäftigen. Er hoffte, dass dies nicht
so bald der Fall sein würde, denn der Prozess der inneren Heilung war schmerzhafter,
als ihm lieb war.
Werner parkte
den Wagen zur Hälfte auf dem Bordstein der Dorotheenstraße 17, Ecke Lerchenweg,
direkt vor Feldmanns Haus. Es stand in einer verkehrsberuhigten Wohngegend mit Straßenlaternen,
die in einem Abstand von 30 Metern angeordnet waren, sodass sich ab 18 Uhr die angenehm
warmen Lichtkegel, die sie in den Spätherbst warfen, beinahe berührten. Der Schein
von Geborgenheit und einer heilen Welt, den sie vermittelten, wäre perfekt gewesen,
hätten nicht seit Tagen die Zeitungen in reißerischer Manier von einem Serienkiller
berichtet, der die Menschen in Angst und Schrecken versetzte.
Dass sich
dieser Killer vielleicht in ihrer Nähe befand und zur selben Zeit sein nächstes
Opfer aussuchte, schien ihnen nicht bewusst zu sein. Sie sahen sich nicht nach allen
Seiten hin um, um nach verdächtigen Personen oder Fahrzeugen Ausschau zu halten.
Sie hegten keinerlei Argwohn und gingen nicht davon aus, dass sich ein Mörder in
der Nähe von Polizeibeamten aufhalten würde. Überdies hätten sie nichts Ungewöhnliches
bemerkt, denn obwohl der Killer niederen Instinkten folgte, war er nicht so dumm,
sich bei seinen Observationen beobachten zu lassen.
Martin stieg
aus. Werner sortierte verschiedene Unterlagen im Kofferraum. Während er wartete,
betrachtete er das Haus. Es musste gut 100 Jahre oder älter sein, da die spitzen
Giebel vor einem zur Südseite reichenden Balkon typische Merkmale des frühen Jugendstils
aufwiesen. Vor dem Haus war ein kleiner Garten angelegt, der nun schlief und seiner
Auferstehung im Frühjahr harrte. Martins Fantasie reichte aus, um sich vorstellen
zu können, wie es hier im Sommer aussah: An einem Spalier rankende rote Rosen, die
das Vordach über der Haustür erklommen, ein gepflegtes Beet mit vielen bunten Einjährigen
und an der Ecke des Hauses, dort, wo der Vorplatz begann, auf dem ein Wohnmobil
aus älteren Tagen stand, wuchs wilder Wein, dessen Krallen sich in den grauen Fugen
zwischen den roten Backsteinen festhakten. Eingerahmt wie in einem Bild des Friedens
stand der braune Zaun aus Metall, dessen geschwungene Spitzen am oberen Rand für
jemanden, der darübersteigen wollte, zu einem ernsten Problem werden konnten.
Werner trug
die drei Akten, die Martin aus dem Schreibtisch von Keller geborgen hatte, in seiner
Hand und gab Martin zu verstehen voranzugehen. Das Tor zu Feldmanns Grundstück quietschte
erwartungsgemäß. Ein melodischer Klingelton kündigte die Beamten an, und es dauerte
eine kleine Weile, bis Feldmann öffnete. Er machte einen verschlafenen Eindruck.
Nachdem sich die Ermittler vorgestellt hatten und Feldmann ihnen Zutritt zu seinem
Allerheiligsten gewährte, sah Martin das zerknautschte Kissen auf dem Sofa. Sein
Verdacht bestätigte sich. Feldmann hatte sich einen Mittagsschlaf gegönnt. Dass
dieser die Gelassenheit besaß, ein labendes Schläfchen abzuhalten, während es in
diesem Moment ein Psychopath auf ihn abgesehen hatte,
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