Rassenwahn: Kriminalroman (German Edition)
schien ihm ziemlich abwegig.
Feldmann
knöpfte die beige Strickjacke zu und ging zu dem kleinen Kachelofen in der Ecke
des Raumes. Während er geschlafen hatte, waren die Scheite niedergebrannt, und die
Glut wollte mit gut gelagertem Buchenholz gefüttert werden.
Feldmann
suchte die Hausschuhe, die unter den Wohnzimmertisch gerutscht waren, und zog sie
an. Alles in allem machte er einen unaufgeregten Eindruck und schien alle Zeit der
Welt zu haben. Dann hatte er sich hergerichtet, strich die ergrauten Haare mit den
Fingern zurecht und wandte sich seinem Besuch zu. Er rieb sich die Hände, als freute
er sich wie ein Kind über diese Abwechslung.
»So, jetzt
mach ich uns erst mal einen schönen Tee, oder?« Feldmann sah abwechselnd voller
Begeisterung in die Gesichter der beiden, die halbherzig nickten. Damit verzögerte
sich das Gespräch, das an Dringlichkeit kaum überboten werden konnte, um weitere
Minuten. Die Beamten hatten sich auf Sessel und Couch niedergelassen. Martin sah
sich im Zimmer um. Für ihn waren spezifische Details in einem Wohnhaus aussagekräftiger
als manch gesprochene Worte, die häufig nicht der Wahrheit entsprachen. Eine Wohnungseinrichtung
indes konnte nicht lügen. Sag mir, was auf deinem Nachttisch steht, und ich sage
dir, was für ein Mensch du bist.
Normalerweise
hingen an den Wänden der Leute, deren Wohnungen Martin gesehen hatte, Fotografien
von Verwandten. Von Kindern und Kindeskindern. Bunte und schwarz-weiß Fotos aus
allen Epochen. In Feldmanns Haus hing nicht ein einziges Foto. Weder von sich noch
von anderen, weder von einer Landschaft noch von einem Gebäude. Anders als die Weinranke,
die ihre feinen, unzähligen Haftwurzeln in die Ritzen klemmte, schien Feldmann die
Vorliebe seiner Pflanze nicht zu teilen. Er schien wie jemand zu sein, der keinerlei
Bindung an Vergangenes und Gegenwärtiges hatte, wie einer, der auf dem Sprung war.
Martin dachte
an die anderen Menschen, die in einem Lebensbornheim zur Welt gekommen waren. Leute,
mittlerweile in den Siebzigern, die noch immer nicht wussten, wer sie waren, woher
sie kamen und warum es sie gab. Und doch hingen bei ihnen Fotos von den Personen,
die ihnen im Laufe ihres Lebens wichtig geworden waren, selbst wenn der Erzeuger
und die Frau, die sie ausgetragen hatte, nicht unter den Fotos zu finden waren.
Obwohl dieses Detail in Feldmanns Haus fehlte, fühlte sich Martin in der Umgebung
wohl. Ein schwer zu beschreibendes Gefühl, wie Martin fand. Manche sprachen von
einer Aura, die einen wie ein unsichtbarer Nebel umgibt, andere nannten es Feng-Shui
oder einfach nur geschmackvoll und gemütlich eingerichtet.
Martin musste
seine Analyse unterbrechen, als Feldmann zu ihnen stieß und mit großer Geschicklichkeit
ein Tablett auf den Händen balancierte, als hätte er sein Lebtag nichts anderes
getan. Er stellte alles auf dem Tisch ab.
»Zucker?
Milch? Bedienen Sie sich, bitte.«
Sobald die
Teezeremonie ein Gespräch zuließ, fiel Martins Blick auf die Titelseite des Hamburger
Abendblattes vom 9. November 2010. Ein großes Foto prangte darauf, auf dem sieben
Personen zu sehen waren. Das Bild war knapp zwei Jahre alt und wurde damals auf
der Treppe zum Gerichtsgebäude aufgenommen. Nachdem der Prozess abgeschmettert worden
war, sollten sich die Kläger vor der Kamera postieren und versuchen zu lächeln.
Keinem der Anwesenden war dies gelungen. Martin nahm die Zeitung zur Hand und ließ
die Gesichter auf sich einwirken. In der hintersten Reihe standen Emilie Braun,
Alois Feldmann und Armin Rohdenstock. In der Reihe davor waren Ursula Seifert, Bernd
Schäfer und der Hausmeister Kurt Sehmrau zu sehen. Vor dieser Gruppe stand Professor
Hans Keller mit einem grauen Leitz-Ordner unter dem Arm. Über dem Foto waren die
Überschriften eines Artikels von einem Journalisten namens Lothar Schenk zu lesen:
Wer wird
der Nächste sein?
Hamburger
Serienkiller noch nicht gefasst.
Katz- und
Mausspiel mit der Polizei.
Dieser prägnante
Titel wurde verständlich, wenn man sich die makabre Nachbearbeitung des Fotos näher
ansah. Alle Personen auf dem Bild, die unlängst verstorben waren, waren schwarz
durchkreuzt worden. Die Personen in der hintersten Reihe waren folgerichtig mit
noch keinem Kreuz versehen, und Martin dachte: Stimmt, wer wird der Nächste sein?
Arbeitet sich der Mörder von vorn nach hinten durch? Hat er dieses Foto vor Augen,
wenn er auf Tour geht ?
*
Oft ist polizeilicher Instinkt die
Grundlage für erfolgreiche
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