Rassenwahn: Kriminalroman (German Edition)
rief er: »Mayra, Mayra, eine Spinne,
eine riesige Spinne. Was soll ich machen?« Mayra drehte sich müde zu ihm um, griff
mit der Hand wie mit einem Kran die Spinne von Martins Brust und setzte sie sanft
auf dem Boden ab. Augenblicklich schlief sie wieder ein. Martin hatte in dieser
Nacht kein Auge mehr zugetan, doch eines Tages hatte er sich an diese Hausgenossen
gewöhnt. Wenn sie neben der Tastatur seines PCs auftauchten, nahm er sie mit großem
Respekt und erlerntem Griff und warf sie aus dem Fenster. Ansonsten fühlte er sich
sehr wohl an jenem Ort. Er liebte die Wärme, die ihn dort umfing, das Rauschen des
Meeres vor seiner Haustür, das Gefühl von Freiheit und Sorglosigkeit, während er
die Wale und Delfine beobachtete. Doch der Mensch gewöhnt sich an alles. Zu Beginn
fühlte es sich wie ein sehr langer Urlaub an, und nach sechs Wochen machte er sich
an die Arbeit, das Hotel in den Griff zu bekommen. Es war schlecht belegt und er
ersann Pläne, es am Markt vorteilhafter zu positionieren. Er schrieb Flyer, Broschüren,
erstellte die Homepage und saugte gierig alle spanischen Vokabeln in sich auf. Nach
drei Monaten sprach er fließend Spanisch und gewann dadurch den Respekt der Einheimischen.
Sogar sein deutscher Dialekt verlor sich, und er begann zu vergessen, wer er vorher
gewesen war. Deutschland gab es für ihn nicht mehr, bis zu der Zeit, als sich die
Probleme häuften. Als er nur noch im Haus herumsitzen konnte und sich mit diversen
Salben und Mixturen einschmierte, die letztlich alle nicht halfen. Er verbrachte
Stunden vor dem PC und chattete mit alten Freunden in Deutschland. Er surfte die
halbe Nacht im Internet und betrachtete die Filmsequenzen diverser Webcams. Irgendwann
begann er sogar, seinen alten Job zu vermissen. Nicht die toten Gesichter, in die
er am Tatort blicken musste, nicht die Einschusslöcher und die Stichwunden oder
im schlimmsten Fall die abgetrennten Gliedmaßen. Er vermisste die Ermittlungen,
die ihn früher zu Höchstleistungen angespornt hatten. Das Ziel, den oder die Mörder
zu fassen, sie dingfest zu machen, hatte ihn angetrieben und ihm die Spitznamen
Wadenbeißer, Terrier oder Bester Bulle des Nordenseingebracht. Und nun war
er wieder genau da, wo er vor seiner Abreise gewesen war. Im Auto auf dem Weg zu
einer Vernehmung, und an seiner Seite befand sich sein Kollege und Freund Werner.
Es hätte
gut klingen können, tat es aber nicht. Etwas fühlte sich noch unrund an. Dieser
Fall spülte alte Gedanken an die Oberfläche. Schuldgefühle, Zweifel, Angst, Zorn
auf sich und andere. Und er merkte, dass die Auszeit zwar einen räumlichen und zeitlichen
Abstand erwirkt hatte, doch das eigentliche Problem, weswegen er aus Deutschland
geflohen war, war sein treuer Begleiter geblieben. Eine Zecke, die sich festgebissen,
die er mit nach Ecuador genommen hatte und die er noch immer nicht losgeworden war.
Die mittlerweile fett geworden war und endgültig herausgerissen werden musste. Und
diese Zecke hieß Schuld. Vielleicht hieß sie auch vermeintliche Schuld. Er wusste
es nicht. Nur die Zecke selbst kannte ihren Namen, doch sie verriet ihn Martin nicht.
Er hoffte, ein anderer könnte ihm irgendwann dabei helfen, sie loszuwerden, denn
sie wurde immer schwerer und lästiger. Hier in Hamburg war sie präsenter denn je,
und er hasste sie dafür.
Schuld.
Wer hat
je definiert, was das ist? Wie schwer sie wiegt, wie viel Anrecht sie darauf hat,
den, an dem sie sich festsaugt, zu peinigen? Ist nicht alles irgendwie relativ ,
dachte Martin. Wird Schuld nicht erst dann lebendig, sobald es einen gibt, der darüber
richtet? Es heißt, eine Schuld ist so lange nicht vorhanden, so lange sie nicht
rechtskräftig erwiesen ist. Doch wie lächerlich diese Aussage wirklich war, wusste
jeder, der nicht Täter, sondern Opfer war. Opfer eines Verbrechens, das nicht gesühnt
wurde, weil man entweder den Täter nicht gefunden hatte oder man ihm die Schuld
nicht nachweisen konnte. Dann gab es noch die Schuld im Inneren, von der kein anderer
wusste, die man nur selbst empfand, obwohl alle behaupteten, dass es dazu keinen
Anlass gab. Mit solch einer Schuld quälte sich Martin seit geraumer Zeit herum,
und die Medizin, die er gebraucht hätte, gab es nicht in der Apotheke zu kaufen.
Die Fähigkeit, sich und anderen zu vergeben, gab es nirgendwo zu kaufen. Sie musste
erworben, erlernt und zugesprochen werden.
In all den
Kriminalfällen, in denen er ermittelte, war es um Schuld gegangen. Schuldig, lautete
der
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