Rassenwahn: Kriminalroman (German Edition)
kamen, als hätte er sie die vergangenen 22 Monate
täglich in dieser oder ähnlicher Form benutzt.
»Ich suche
eine Dame mit Namen Braun. Emilie Braun oder so.« Frau Kaschewitz schien verwundert
zu sein. Vielleicht lag dies an der Tatsache, dass Frau Braun bisher noch nie Besuch
von einem Polizeibeamten bekommen hatte, oder daran, dass sie noch nie Besuch von
einem solchen Polizeibeamten bekommen hatte. Die Krankenschwester führte
Martin durch einen langen Flur hindurch und blieb am Ende des Flures auf der linken
Seite an einer Tür stehen. Sie drückte die Klinke herunter und ging voraus.
Martin verengte
die Nasenflügel. Ein Schwall von Medizingerüchen und anderen nicht identifizierbaren
Agenzien störte sein Geruchsempfinden erheblich und trieb düstere Erinnerungen in
seinen Sinn: Bereits lange zuvor verdrängte Szenen mit einem alten Mann in einem
Bett und ihm, dem Sohn, davor und keinem einzigen Wort der Versöhnung bis zum Schluss.
In der Mitte
des Raumes standen sie vor einem Bett, in dem eine alte Frau lag.
»Ist das
Emilie Braun?« Martin blickte auf eine Gestalt, die die Augen geschlossen hielt.
»Ja«, erwiderte
die Schwester und ließ dabei keinerlei Emotionen erkennen.
»Ich bin
angewiesen, ein Buch, das Frau Braun geschrieben haben soll, mit aufs Präsidium
zu nehmen.«
Frau Kaschewitz
nickte stumm, drehte sich um, zog die Schublade einer Kommode auf und überreichte
ihm, wonach er verlangte. Martin blätterte desinteressiert darin herum und betrachtete
dann die Frau, die sich zwischen den Kissen vor der Welt zu verbergen versuchte.
Ihre Handgelenke waren bandagiert und mit zäh-elastischen Bändern an den Gitterstäben
des Bettes fixiert. Eine gewisse Bewegungsfreiheit hatte man ihr gelassen. Rote
Farbe auf der Unterseite deutete auf Blut hin. Ihre Haut auf der Oberseite der Arme
war mit Altersflecken übersät, und ein Tropf versorgte sie mit allem, was ein Körper
zum Weiterleben brauchte. Rings um die Einstichstelle der Braunüle dominierten blaue
Flecken, was darauf hinwies, dass das Auffinden der Vene mit einiger Mühe verbunden
gewesen sein musste oder in aller Eile geschah. Pohlmann betrachtete die Patientin,
und ihr Anblick verursachte in seinem Inneren eine Mischung aus Abscheu und Verwirrung.
Einen Moment lang löste Martin die Fixierung seiner Augen und blickte auf die kliniküblichen,
seiner Meinung nach hässlichen Birkenstockschuhe von A. Kaschewitz. In diesem Moment
erwachte die Patientin. Ihre Pupillen rollten von einer Seite zur anderen. Sie brauchte
eine Weile, um sich zu orientieren. Ihr Gehirn hatte, wie man ihm später versicherte,
durch den suizidbedingten Sauerstoffmangel keinen Schaden erlitten. Um dies zu beurteilen,
hätte Martin sie allerdings besser kennen müssen.
Er hoffte,
dass dies nicht nötig sein würde.
Martin verstand von medizinischen
Dingen nicht viel. Er war seit über 20 Jahren ein raubeiniger Bulle und aus voller
Überzeugung kein Arzt geworden, doch der erste Eindruck, den der ausgemergelte Körper,
der da vor ihm lag, auf ihn machte, schien von dem Erleben der Ewigkeit nicht weit
entfernt zu sein. Der ganze Körper der Frau schien dem Tode nahe zu sein, doch ihre
Augen tanzten diesbezüglich aus der Reihe. Sie waren alles andere als tot. Als die
Frau Martin mit dem Buch in der Hand erblickte, sprühten ihre blauen Augen Funken.
Emilie Braun ärgerte sich, dass sie noch am Leben war und all das miterleben musste.
Statt im Himmel oder sonst wo angekommen zu sein, verharrte sie immer noch auf der
Erde. Fast wäre sie fort gewesen, doch wie mit einem langen Gummiband hatte man
sie durch verschiedene Maßnahmen zurückgezogen, zurück in diese Hölle, die, seitdem
Hans tot war, für sie keinen Sinn mehr ergab.
Sie kniff
die Augen zusammen, um besser sehen zu können, und jetzt erkannte sie noch deutlicher
den Gegenstand in der Hand des Fremden und war mit dem, was sie sah, ganz und gar
nicht einverstanden.
»Das ist mein Buch!«, keifte Emilie Braun den Kommissar an. Sie versuchte, sich aufzubäumen,
doch die Bandagen hielten sie zurück. Sie hustete und räusperte sich. »Das ist mein
Buch«, wiederholte sie stereotyp. »Verdammt! Das ist nicht für Sie.« Ihre
Stimme klang laut und krächzend wie die eines greisen Papageis. Sie lispelte und
während sie fluchte, fiel Martins Blick in ein schwarzes Loch mit rötlichem Zungenhintergrund,
das normalerweise mit einem Zahnersatz kaschiert war. Martin entdeckte die Zahnprothese
mit silbernen
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