Rassenwahn: Kriminalroman (German Edition)
Klammern in einer weißen Plastikschale auf dem Tisch neben dem Bett.
Ein Gedanke, schneller als der Neutronenbeschuss in einem Reaktor, fand Zugang zu
seinem Bewusstsein. Hatte Vater nicht auch so eine Prothese, bevor er starb? Er wehrte sich gegen den Angriff aus der Vergangenheit und hielt das Buch umso
fester in der Hand. Er fühlte das Leder mit seinen Fingerspitzen und sah darauf
herab. Ihm schien, als berge es Geheimnisse, die sich nur ihm offenbaren wollten.
»Für wen
ist es denn?«, fragte er leise, um das Gemüt der Frau zu beruhigen.
Hätte sie
sich bewegen können, hätte sie mit den Schultern gezuckt. »Ich weiß nicht – jedenfalls
nicht für Sie. Wer sind Sie überhaupt?« Ihre Augen wanderten auf dem Hemd von einer
Blume zur nächsten.
»Mein Name
ist Kommissar Martin Pohlmann.« Er machte eine kleine Pause, dann fuhr er fort:
»Und ich bin Ihretwegen hier. Genauer gesagt, wegen dem hier.« Pohlmann wedelte
mit dem Buch in der Luft. Die Augen der Frau weiteten sich in ihrer perplexen Erstarrung.
Sie schien nicht glauben zu wollen, was man ihr einzureden versuchte. Ein angeblicher
Kommissar in einem grotesken Hemd, das sich über dem wohlgenährten Bauch spannte,
und noch dazu hielt er ihr Buch in seiner Hand. War dies die Wirklichkeit,
die sie erlebte, oder war sie doch schon im Jenseits, wo eben solche Typen herumliefen?
Als sie
meinte zu begreifen, dass sie es tatsächlich mit der Realität zu tun hatte, verwandelte
sich die Erstarrung in eine sich grämende Maske, die die Verzweiflung nicht verbergen
konnte.
»Ich wollte
doch schon weg sein, wenn das jemand findet. Verdammt, so war das nicht geplant.«
Sie schüttelte resigniert den Kopf. »Sie machen mich ganz verrückt.«
Pohlmann
hob seine Brauen und fragte sich, ob man jemanden, der schon verrückt war, noch verrückter machen konnte. Vermutlich gab es da Steigerungsmöglichkeiten.
Für ihn
war es das erste Mal, dass er in diesem Metier ermittelte. Er blickte auf das Ziffernblatt
seiner Armbanduhr und rechnete in Gedanken den immensen Zeitunterschied aus. Er
hatte definitiv keine Lust mehr. Ein unbeabsichtigtes Stöhnen entwich ihm. Keine
Lust, sich hier in einer Anstalt für psychisch Kranke inmitten irritierender Menschen
und Gerüche zu befinden, und keine Lust, sich mit dieser Frau zu zanken. Pohlmann
schnaufte erneut.
»Hören Sie,
Frau Braun. Ich habe den Auftrag, dieses Buch an mich zu nehmen, warum auch immer.
Es wird schon einen triftigen Grund dafür geben, oder?«
»Ja, und?«,
unterbrach Emilie die Stille und schaute von einem Augenpaar in das nächste. »Was
wollen Sie jetzt von mir? Mich verhaften?« Die Alte lachte irre, mit kurzen Luftstößen,
und hob die Hände innerhalb der Grenzen, die ihr geblieben waren, dem Kommissar
entgegen. Sie brachte die Plastikflasche mit Kochsalzlösung neben sich zum Schaukeln.
Martin versuchte,
gelassen zu bleiben. Was blieb ihm auch anderes übrig? Man erwartete Professionalität
von ihm, also leistete er sie, so gut es ihm möglich war. Wenige Minuten später
würde er wieder draußen sein, endlich einkaufen können, nach Hause fahren, die Wäsche
machen, die Bude aufräumen und viele andere Dinge, die sonst eine Frau in seinem
Leben erledigte. Auch diese Gedanken verbesserten seine Stimmung nicht.
Was hatte
die Alte ihn noch gefragt? Die Konzentration ließ allmählich nach. Ach ja, ob er
sie verhaften wolle – wie lächerlich.
»Tja, das
vielleicht nicht gerade. Ich weiß es, ehrlich gesagt, nicht, wie man in so einem
Fall verfährt. So was hatten wir noch nicht.« Er drehte sich von dem Bett weg und
blickte erneut zu Boden, diesmal auf seine eigenen Schuhe. »Ich bin doch gestern
erst angekommen«, murmelte er leise vor sich hin. Pohlmann schlug die abgewetzte
Kladde auf und ließ die Blätter durch seine Finger flattern. »Außerdem, wie man
mir vor einer Stunde mitgeteilt hat, ist der Mann, den Sie eines Mordes bezichtigen,
auch schon tot. Was macht das Ganze noch für einen Sinn?«
Emilie drehte
den Kopf zum vergitterten Fenster und gab den Blick auf schütteres Haar am Hinterkopf
frei. Einige kahle Stellen ließen die weiße Kopfhaut durchschimmern.
»Eben«,
kicherte sie. Sie schaute wieder in Pohlmanns dunkle Augen. »Aber vielleicht stimmt
das ja alles gar nicht, was da drin steht. Vielleicht war es ja gar kein Kerl. Vielleicht
war es ja auch eine Frau, … ich, zum Beispiel.« Wieder gackerte sie. Emilie schaute
nun Pohlmann direkt an. Ihre zerknitterten Falten
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