Rassenwahn: Kriminalroman (German Edition)
Hedwig Strocka, uneheliche Tochter eines rein
arischen Offiziers, über Generationen hinweg – so die offizielle Version. Ein Prachtexemplar
für den Führer, leider jedoch ein Mädchen, das nicht an der Waffe ausgebildet werden
könnte. Ein sicherlich für manche Menschen liebenswertes, nicht allzu hässliches
Kind, verschlossen zwar und nicht willens, sich mit Worten mitzuteilen, doch dass
sie gar nicht redete, entsprach nicht der Wahrheit. Sie redete nicht mit
jedem, aber sie hatte mit Schwester Hildegard geredet. Wann immer die Schwester
sich um sie bemühte, fand sie die Tür, die man öffnen musste, um zu Hedwigs Inneren
zu gelangen, eine Tür, die sonst niemand fand. Nur dann, wenn sie allein waren und
kein anderer sie sah oder hörte, öffnete Hedwig die zarten, manchmal bläulich verfrorenen
Lippen und überredete ihre Stimmbänder, mit sanften und weichen Tönen Worte entstehen
zu lassen, die so niedlich und unschuldig klangen, dass sie unmittelbar Zugang zu
Hildegards Herzen fanden.
»Bitte,
halten Sie mich nicht für unverschämt, aber sagen Sie mir doch bitte, was mit Hedi
geschehen soll.« Obwohl sie es bereits wusste, weil sie gelauscht hatte, durfte
sie auf keinen Fall das Vertrauen ihres Vorgesetzten verlieren. Dr. Reuter schätzte
den unermüdlichen Einsatz der Schwester für die Kinder und behandelte sie mit Respekt.
Einen Augenblick hielt er inne, während er seine Hände in dem Karteischrank vergrub.
Er überlegte, wie weit er sie in seine Pläne einweihen durfte.
»Die Hedwig
kann nicht hierbleiben«, sagte er. »Sie schadet dem Ruf unserer Einrichtung. Sie
ist geistig nicht gesund.« Dann fuhr er fort, Akten zu sichten. »Ich habe es mir
noch einmal durch den Kopf gehen lassen. Ich denke, ich werde sie einweisen lassen
müssen. Ich glaube nicht, dass irgendjemand dieses verstörte Mädchen adoptieren
möchte. Sie ist eine Belastung für jede Familie, zumal in diesen Zeiten.«
Schwester
Hildegard wurde unruhiger und sie konnte nicht länger an sich halten. » Ich könnte sie doch mitnehmen. Sie wissen doch, dass ich nach Bremen versetzt werde.
In zwei Tagen reise ich ab.« Dr. Reuter wägte alle Eventualitäten ab. Es musste
sichergestellt werden, dass es ab morgen keine Hedwig Strocka mehr gab, so oder
so. Ein Tag mehr oder weniger würde vermutlich nichts ausmachen. Andererseits wäre
das Kind ein geeignetes Objekt für neurologische Forschungen. Diese Art der geistigen
Störung war weitgehend unerforscht, und es wäre gewiss interessant herauszufinden,
unter welchen pharmazeutischen, physikalischen und operativen Bedingungen man Hedwigs
Zunge lösen könnte. Ob sie jedoch eine Lobotomie, die Durchtrennung des hirnansässigen
Stirnlappens, überleben würde, war fraglich. In Zeiten wie diesen schafften es die
meisten nicht oder waren pflegebedürftig bis an ihr Lebensende.
Reuter hielt
in seinen Bewegungen inne und blickte zu Schwester Hildegard auf. Es schien, als
suche er in ihren Augen die richtige Antwort auf die schwierige Frage, wie man mit
Hedwig verfahren solle. »Strocka war sehr ungehalten über den Zustand seiner Tochter.
Ihnen ist ja nicht bekannt, was er angeordnet hat, aber von einer Verlegung hat
er jedenfalls nicht gesprochen.«
»Er muss
es ja nicht erfahren«, flehte Hildegard und berührte Dr. Reuter vertraulich am Arm.
»Ich weiß, dass sie schwierig ist, aber ich habe wirklich keinerlei Mühe mit ihr.«
Dann überlegte sie kurz, ob sie ihr Geheimnis Dr. Reuter mitteilen sollte. Es galt,
alles in eine Waagschale zu werfen, um das Kind zu retten. »Hören Sie, ich weiß,
Sie glauben, sie sei verrückt, weil sie nicht spricht und weil sie sich manchmal
so sonderbar benimmt, aber das stimmt nicht. Sie ist nicht verrückt. Sie ist vielleicht
ein wenig …«, Hildegard rang mit Mühe nach der korrekten Bezeichnung, »… sie ist
einfach nur anders als die anderen, aber auf ihre Art doch liebenswert. Sie spricht
mit mir ! Ja, es stimmt. In meiner Gegenwart ist sie ganz normal. Glauben
Sie mir, sie mag mich. Ich bin für sie wie die Mutter, die sie nie hatte.« Dr. Reuter
wandte sich zu Hildegard um. 30 Jahre Erfahrung als praktischer Arzt in fast allen
Belangen der angewandten Medizin hatten ihm nicht geholfen, einen Zugang zu dem
Mädchen Hedwig Strocka zu bekommen, selbst wenn man seine Versuche nur als halbherzig
bezeichnen konnte und er sich auf viele Kinder konzentrieren musste. Nun sagte ihm
diese nicht approbierte Schwester, dass sie den Schlüssel zum Herzen dieses
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