Rassenwahn: Kriminalroman (German Edition)
Himmel war verhangen
und die Wolken drückten auf sein Gemüt. Einzelne Tropfen platschten vorn auf seiner
schwarzen Schirmmütze auf, gleich unterhalb des Totenkopfabzeichens. Ein Tiefdruckgebiet
hatte das schöne Sommerwetter des Vortags abgelöst.
In der rechten
Hand hielt er einen braunen, versiegelten Umschlag, den er eng am Körper bewahrte.
Mehrmals sah er sich um, eine Angewohnheit, die in Kriegszeiten zwar nützlich, hier
an diesem Ort des Friedens jedoch völlig überflüssig war. Wer sollte schon ihn,
Gerhard Strocka, seines Zeichens Hauptsturmführer, überfallen, erschießen, verhaften
oder ihm sonst wie schaden wollen, es sei denn, es käme heraus, dass ein schwachsinniges
Kind seine Gene besäße und nicht die Elite des deutschen Volkes repräsentieren würde.
Und dann wäre es nur ein kleiner Schritt herauszufinden, wer er wirklich war, vor
allem, wer seine Familie war.
Strocka
schritt den Flur entlang, grüßte hier und da, verzog keine Miene und ließ sich bei
Dr. Reuter anmelden.
Reuter hatte
soeben die letzten Vorbereitungen für den Umzug des Mädchens getroffen und Schwester
Hildegard angewiesen, sich aller Unterlagen anzunehmen. Nun standen sich Strocka
und Reuter in dessen Büro gegenüber und tauschten ernste Blicke.
Reuter schluckte
mehrfach, seine Zunge klebte am Gaumen.
»Ich habe
eigentlich nicht damit gerechnet, Sie heute persönlich anzutreffen. Sprachen Sie
nicht davon, die Unterlagen von einem Adjutanten herbringen zu lassen? Sie hätten
sich doch nicht persönlich herbemühen müssen.«
Strocka
verengte die Augen zu einem dünnen Schlitz.
»Warum?
Stimmt etwas nicht?«
Reuter wiegelte
ab, eine Nuance zu hektisch vielleicht.
»Nein, nein.
Es ist alles in Ordnung. Ich dachte nur, ein so vielbeschäftigter Mann wie Sie …«
»Ich hielt
es für besser, selbst zu kommen. Es gibt Dinge, die man nicht an andere übertragen
sollte. Unterlagen können verloren gehen. Es sind Kriegszeiten. Wem wollen Sie da
noch vertrauen?«
Reuter schluckte
erneut, räusperte sich und vergrub die Hände in den Kitteltaschen.
»Es ist
alles so angeordnet, wie Sie es wünschten. Ich habe die Unterlagen von Hedwig sortiert
und … beseitigt.«
Strocka
war kein Mann, den man hätte leicht belügen können. Reuter hatte nur wenige Sekunden,
um Strocka zu überzeugen. Er durfte auf keinen Fall Argwohn erregen. Sich über seine
Dummheit zu ärgern, dafür war es zu spät. Warum hatte er nur auf Schwester Hildegard
gehört? Ihr einen Gefallen zu tun, erschien ihm nun töricht und gefährlich, insbesondere,
wenn die Sachlage überprüft werden würde.
Strocka
überreichte Dr. Reuter einen unscheinbaren Umschlag. »Den neuen Namen des Kindes
sowie den ihrer Eltern entnehmen Sie bitte dem Dossier. Ich ersuche Sie, alles Nötige
derart zu veranlassen, wie wir es besprochen haben, und mir keinen Anlass zu geben,
an Ihrer Integrität zweifeln zu müssen.«
Reuter nahm
den Umschlag von Strocka entgegen. Er wollte vermeiden, ihm die Hand geben zu müssen.
Der Angstschweiß hätte ihn verraten. »Möchten Sie das Kind noch einmal sehen?« Reuter
nahm Zuflucht zu einer List. »Sie liegt auf ihrem Bett. Es geht ihr heute nicht
besonders gut. Sie wirft sich hin und her und schäumt ein wenig aus dem Mund.«
Strocka
trat einen Schritt zurück. Er hätte keine Mühe damit gehabt, einen Juden, Zigeuner
oder Andersdenkenden durch einen Genickschuss zu liquidieren, doch ein Kind im Wahn
zu erleben, noch dazu sein eigenes, danach stand ihm nicht der Sinn. »Verschonen
Sie mich mit dem Anblick dieser …«, Strocka suchte nach einem passenden Wort, »…
dieser Missgeburt. Sie wissen, was Sie zu tun haben. Und informieren Sie mich umgehend,
wenn Schwierigkeiten auftreten, obgleich ich nächste Woche für einige Zeit in den
Osten versetzt werde.«
Reuter nickte.
Seine Notlüge hatte das nötige Ergebnis erzielt. Nun galt es, das Kind so schnell
wie möglich außer Haus zu schaffen. Selbst wenn Strocka behauptete, nicht mehr vor
Ort zu sein – Befehle könnten widerrufen oder geändert werden. Worauf war noch Verlass
in diesen Tagen?
»Nun gut,
ich gehe dann. Leben Sie wohl, Doktor.« Strocka streckte Reuter, anstatt ihm die
Hand zu geben, den Zeigefinger entgegen und zeigte auf ihn. Reuter empfand es so,
wie es gemeint war: als eine nonverbale Drohung und die Demonstration eines ihm
höhergestellten Ranges.
»Sie können
sich auf mich verlassen. Leben Sie wohl.«
Strocka
schlug die Hacken zusammen und
Weitere Kostenlose Bücher