Rassenwahn: Kriminalroman (German Edition)
aus, und hätte er seinen Dienstausweis nicht dabeigehabt,
hätte man ihn im Inneren der Klinik womöglich gleich dabehalten. Er trug immer noch
das Hawaii-Hemd und hatte die rötlichen Haare zu einem Zopf im Nacken zusammengebunden.
Der für deutsche Verhältnisse nicht mehr zeitgemäße Schnurrbart war ebenfalls rötlich,
eher klebrig-braun von jahrzehntelangem Samson und Drum-Missbrauch. Er rauchte eigentlich
alles, was man rauchen konnte, in Ecuador gelegentlich auch vermischt mit Gras,
doch hier in Hamburg freute er sich über heimische Tabakmarken, weniger jedoch über
heimisches Wetter. Er nahm die letzten Züge seiner Zigarette und bemerkte, wie die
Finger seiner linken Hand, in der er die Kippe hielt, zitterten. Er wusste genau,
dass dieses Zittern nicht auf ein Defizit an Zucker in seinem Gehirn oder den noch
in seinem Inneren herumspukenden Jetlag zurückzuführen war. Auch die für seine Verhältnisse
sibirisch anmutenden Temperaturen waren nicht dafür verantwortlich. Es waren diese
Mauern, die er zu durchschreiten beabsichtigte und die sein vegetatives Nervensystem
in Aufruhr versetzten.
Nachdem
Martin dem Pförtner den Ausweis gezeigt und dieser in der Besucherliste nachgesehen
hatte, durfte er passieren.
Der übergewichtige
Mann erhob sich aus seinem Stuhl und lehnte sich aus dem Fenster seines Häuschens.
Während er Pohlmann hinterher sah und ungläubig den Kopf schüttelte, wackelte sein
fettleibiges Doppelkinn wie jenes von Scooby-Doo.
Eine zunehmende Unruhe verdrängte
Martins Müdigkeit und er fror. Von außen betrachtet wirkte das Gebäude keineswegs
unfreundlich. Roter Backstein mit weiß getünchten Giebeln und kleinen Balkonen an
der Frontseite vermittelten eher den Eindruck eines Hotels oder eines friedlichen
Sanatoriums. Kräftiger Efeu klammerte sich an den feinen Ritzen und Unebenheiten
des Fugenputzes fest und erklomm das von der Außenwelt abgeriegelte Gebäude. Vor
dem Haus lag ein kleiner Park, in dem ein Gärtner das letzte Herbstlaub zusammenrechte
und die verblühten Rhododendrenblüten abknipste. Er trug einen grünen Overall mit
dem Logo der Klinik auf dem Rücken, zog den Reißverschluss hoch bis zum Hals, sah
von seiner Arbeit auf und bedachte den ungewöhnlichen Besucher mit einem sonderbaren
Blick. Für Pohlmann sollte dies nicht der einzige ihm Unbehagen einflößende Blick
gewesen sein, denn immerhin konnte die nette Parkanlage nicht darüber hinwegtäuschen,
dass hinter diesen Pforten gequälte Seelen lebten, die ihre Hände durch vergitterte
Stäbe reckten und zeitweise ihre Dämonen in die Nacht hinausschrien.
Eine dieser
Seelen erwartete ihn, und hätte man ihm die Wahl gelassen, er hätte kehrtgemacht.
Kapitel 5
Steinhöring, 18. August 1944
Der Offizier schloss die Tür seiner
neuen Limousine und kam zur Ruhe. Alle Stimmen, seien sie von innen oder außen,
verstummten mit einem soliden Knall. Der Chauffeur startete stumm den Motor. Ungefragt
hätte er sich nie getraut, auch nur einen Laut von sich zu geben. Er hielt es für
das Beste, den Mund zu halten, nicht einmal darüber nachzudenken, worin der wahre
Sinn dieser ominösen Kinderheime lag. Auf dem Beifahrersitz hingegen saß ein Mann,
in dessen Kopf sich die Gedanken überschlugen. Die Bilder dieses Mädchens, die er
nicht abwehren konnte, verstörten ihn. Dieses Kind könnte seine gesamte Karriere
ruinieren, jetzt, wo er schon so weit in der Gunst des Führers aufgestiegen war.
Er dachte an die Worte des Arztes. Ja, es musste wohl an der Mutter des Kindes gelegen
haben, dessen war er sich sicher. Sie war doch nicht so gesund gewesen, wie sie
gesagt hatte. Ihr Erbgut musste fehlerhaft gewesen sein – eine Schande des
deutschen Volkes. Sie war schwach und starb, in seinen Augen ein natürlicher Ausleseprozess,
denn nur der Starke sollte überleben.
Dass man
während des Zeugungsaktes nicht unbedingt sturzbetrunken sein sollte, um eine gesunde
Entwicklung des Kindes zu gewährleisten, hielt er nicht für bedeutsam.
Indes beeilte sich Dr. Reuter, die
Akten von Hedwig zu suchen. Auch er war erleichtert, dass der Besucher fort war.
Er ging in sein Sprechzimmer, wo er die Unterlagen in einem abschließbaren, metallenen
Karteischrank aufzuheben pflegte. Im geeigneten Moment trat Schwester Hildegard
hinzu und täuschte vor, Ordnung machen zu wollen. »Kann ich Ihnen helfen? Suchen
Sie etwas Bestimmtes?« Sie erblickte die bereitgelegte Akte von jenem Kind, das
sie seit der Geburt betreut hatte.
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