Rassenwahn: Kriminalroman (German Edition)
so viel bedeutete wie: Fass mich nie wieder an! Sie rutschte von
ihm weg und setzte sich auf die andere Pritsche. Dort legte sie sich hin und starrte
an die Decke. Ein faseriger Lichtstrahl aus einer hölzernen Türritze traf ihr Gesicht.
Das Zittern verebbte allmählich, und die Falten, die ihre mimische Muskulatur bedeckten,
entspannten und streckten sich. Alles an ihr schien loszulassen wie in dem Moment
des Todes.
»Emilie?
Geht es Ihnen gut?«
Frau Braun
antwortete nicht. Ihr Brustkorb hob und senkte sich. Sie atmete, also lebte sie,
und doch – sie schien sich in einem Zustand zu befinden, in dem sie ihre Umgebung
nicht mehr wahrnahm. Sie hatte sich zurückgezogen in die Parallelwelt ihrer Fantasie.
Dort war es nicht nur warm und hell, sondern vor allem friedlich und konfliktfrei.
Ein Paradies, wie es sich jeder Mensch wünschte. Wann es Emilie gelernt hatte, sich
aus der Realität zu verabschieden und, wie durch eine Tür hindurchgehend, einen
anderen Raum zu betreten, in dem man keinen Schmerz und keinen Hass kannte, hatte
sie noch niemandem verraten. Es musste gewesen sein, als sie vier oder fünf war.
Damals,
als die Männer kamen.
*
Alois Feldmann fühlte sich elend
und vor allem einsam wie in seinem ganzen Leben zuvor nicht. Obwohl er in diesem
Verlies Verbündete hatte, die sein Schicksal teilten, war für ihn geteiltes Leid
kein halbes Leid. Es waren nicht die Menschen, die er jetzt, am Ende seines Lebens,
vermisste, sondern es war Gott, der ihm fehlte. Der Gott, den er zeitlebens an seiner
Seite wusste, der, der mit ihm durch dick und dünn gegangen war, und der, auf den
er sich zu freuen glaubte, wenn er diese Welt verlassen würde. Unzählige Male hatte
er Menschen in Trauer begleitet, hatte ihnen Trost zugesprochen, Hoffnung vermittelt.
Alles verblasste im Angesicht der eigenen erlebten Realität. Eine Wirklichkeit,
die er in seinen dunkelsten Träumen nie erlebt hatte: eingesperrt von einem Psychopathen,
der ihn – den Grund konnte er nicht im Geringsten erahnen – töten wollte. Alle Menschen
mussten früher oder später sterben, das war ihm klar, und er hatte den Mut der ersten
Christen bewundert, die in einer römischen Arena singend ihre aus der Erde herausragenden
Köpfe den Löwen zum Fraß hingehalten hatten, oder jene, die im Angesicht ihres Todes
den Glauben nicht verraten hatten und auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurden. Nie
hätte er gedacht, dass es ihn selbst einmal treffen würde, durch die Hand eines
anderen zu Tode zu kommen. Angst machte ihm vor allem der Gedanke an die Art und
Weise, wie der Mörder dies bewerkstelligen wollte.
Er hatte
sich für einen Mann gehalten, der allen Unbilden des Lebens gegenüber gewappnet
war. Er sah sich eher wie Petrus, der über das Wasser ging, im Gegensatz zu jenen,
die angsterfüllt im Boot sitzen geblieben waren. Er hielt sich für einen Überwinder
des Bösen – das zumindest hatte er geglaubt. Bis zu diesem Tag, an dem er sich einer
Gewalt gegenübersah, die er nicht einschätzen oder kalkulieren konnte, die den Tod
bringen sollte, zu einer Zeit, in der er noch nicht sterben wollte.
Wer will
das auch schon, schoss es ihm durch den Kopf. Er kannte viele Selbstmordkandidaten,
die in ihrer Umnachtung sich nichts sehnlicher wünschten, als das irdische Jammertal
zu verlassen. Die, nachdem man sie gerettet hatte, umfangreiche Therapien und Seelsorge
brauchten, um wieder Fuß im Diesseits zu fassen, wie Emilie. Er war nie ein Flüchtling
gewesen. Er liebte das Leben auf dieser Erde, besonders seit dem Zeitpunkt, als
ein tiefer Frieden in sein Leben eingezogen war. Zu der Zeit, als er sich entschied,
die frohe Botschaft der Bibel zu seiner eigenen zu machen.
Er hätte
nicht zwingend katholischer Priester werden müssen, doch diese Konfession gab ihm
die Möglichkeit, nicht zu heiraten und dabei normal zu erscheinen. Er konnte kaum
die Verantwortung für sein eigenes Leben übernehmen, wie sollte es da noch für eine
Frau oder für Nachkommen reichen. Eine Frau hätte es mit ihm nicht ausgehalten,
das war ihm klar, und da sein Interesse an geschlechtlichen Dingen eher gering war,
nahm er nach langem Suchen und endlichem Finden den christlichen Glauben an und
wurde Priester. Er sah sich wie eine Art Pater Ralph de Bricassart, jene
Figur aus dem Film ›Dornenvögel‹, deren Folgen er schmunzelnd verfolgt hatte, ohne
je die Gelegenheit gehabt zu haben, eine ›Maggie‹ kennenzulernen, die sein Leben
durch die Versuchungen der
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