Rassenwahn: Kriminalroman (German Edition)
Liebe durcheinandergebracht hätte.
Nun saß
er hier, neben einem schwer verletzten und bewusstlosen Kommissar und der Insassin
einer geschlossenen Anstalt, die derzeit ihr Heil darin fand, sich in eine ferne
Fantasiewelt zu begeben und sich der Realität zu entziehen.
In seiner
abgrundtiefen Hilflosigkeit fing er an zu schluchzen. Er konnte sich nicht erinnern,
wann er das letzte Mal geweint hatte. Er hielt es für eine unmännliche Untugend,
doch nun konnte und wollte er es nicht verhindern. Die Tränen bahnten sich ihren
Weg aus allen Drüsen, die für deren Produktion zuständig waren, und verirrten sich
in dem grauen Geäst seines Bartes. Er barg seinen Kopf in den Händen, und stille
geflüsterte Rufe, Gebete, die aus nur einem Namen bestanden, trieben wie feine Rauchschwaden
durch die Zimmerdecke zu ihrem Adressaten. Mögen sie IHN erreichen, war sein
innigster Wunsch. Mehr als das hatte er der ganzen Situation nicht entgegenzusetzen.
*
Wie lange die Gefangenen dort saßen
und froren, entzog sich ihrer Kenntnis. Eine Stunde, vielleicht zwei?
Es waren
vier Stunden vergangen, als Martin Pohlmann erwachte. Er öffnete die Augen, spürte
den Schmerz, wie er von seinem Entstehungsort bis zum Gehirn eilte, und erbrach
sich sogleich ins Dunkle hinein neben die Liege, die die Bezeichnung Bett nicht
verdiente. Ein dünner Schwall übel riechenden Mageninhalts, gewürzt mit einer Überdosis
Stresshormonen, ergoss sich auf den rissigen Beton. Das Stöhnen des Gepeinigten
unterbrach die drei Mal hintereinander erfolgten Auswürfe, bis nur noch bittere
Galle im Rachen schmerzte. Kraftlos und ohne Orientierung ließ sich Martin zur linken
Seite hin fallen und landete an der Schulter von Alois Feldmann. Er erschrak, dass
das, woran er lehnte, nachgab, und richtete sich auf. Das rechte Auge war dank Drägers
Faust zu einem dünnen Schlitz zugeschwollen und mit dem linken bemerkte er den sich
bewegenden Schatten neben sich. Die Metallfedern kreischten wie keifende Raben unter
ihm, und es dauerte eine geraume Zeit, bis sich Pohlmann an das Geschehene erinnerte.
In einer stümperhaften Aktion hatte sich Martin überrumpeln und mit 500.000 Volt
in die Kraftlosigkeit eines Neugeborenen katapultieren lassen. Die Waffe hatte man
ihm ohne Mühe abgenommen, und die Energie in seinem Körper reichte bei Weitem nicht
aus, einen Schrank wie Lars Dräger schachmatt zu setzen. Überdies war Martin Pohlmann
trotz jahrelanger Ausbildung im Nahkampftraining alles andere als fit. Die zwei
Jahre in Ecuador hatten seinem eh dürftig ausgeprägten Waschbrettbauch einen stattlichen
Speckmantel hinzugefügt, und von seiner Kondition als Raucher – Exraucher seit fünf
Tagen – mochte man gar nicht erst reden. Sie war quasi nicht vorhanden. Hinzu kam,
dass Symptome einer nicht auskurierten Grippe in seinen Gliedern aufflammten. Das
Einzige, was ihm jetzt noch geblieben war, war eine Wut, die man nicht mit Maßeinheiten
beschreiben konnte. Er spürte in erster Linie nicht Verärgerung über sein Versagen
oder Mitgefühl für die anderen beiden in dieser schrecklichen Situation, sondern
es meldete sich grenzenloser Zorn, der dringend ein Ventil brauchte. Aggressive,
unkontrollierbare Wut wollte die Situation beenden, kurzen Prozess mit Dräger machen
und ihn, den besten Bullen des Nordens, als Helden aus der Sache herauskommen lassen.
Das andauernde schmerzhafte Pochen im Kopf ließ sich nicht anders beantworten als
mit einem von Obszönitäten begleiteten Faustschlag gegen die Bettkante, der ihm
weiteren Schmerz zufügte. Nachdem er eine Weile bewegungslos verharrt hatte, ebbte
der Schmerz allmählich ab. Sogleich drängten sich seinem Bewusstsein die Mitgefangenen
auf.
»Wie geht
es Ihnen, Feldmann?«, keuchte er und wandte sich, sein linkes Auge aufgesperrt,
seinem Verliesnachbarn zu.
»Wie soll
es mir gehen? Furchtbar natürlich. Es geht mir beschissen«, sagte der betont wütend
und wunderte sich über seine Wortwahl, auf die er im nächsten Moment pfiff, weil
es die Sache am besten beschrieb.
»Mir tun
die Knochen weh. Der Kerl hat mir, bevor er ging, noch eine verpasst, so wie Ihnen.
Mir ist kalt und – ich habe Angst. Ich habe verdammt nochmal eine Scheißangst vor
diesem Kerl.« Martin hörte den tiefen seelischen und körperlichen Schmerz, der aus
Feldmann herausbrach wie ein wilder Sturzbach. Er schien all seine Frömmigkeit zu
vergessen, weil es darin keine nett klingenden Vokabeln für derlei Situationen zu
geben
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