Rassenwahn: Kriminalroman (German Edition)
Braun lediglich anders war als die anderen, aber nicht zwingend verrückt?
Nur weil sie nicht sprach und dicke Bücher in Rekordzeit verschlang und, hätte sie
mit anderen gesprochen, noch nach Wochen daraus frei rezitieren konnte, war sie
noch lange nicht verrückt. Sie war sonderbar, eigenbrötlerisch, geistesabwesend
und neigte zu Wutausbrüchen und psychogenen Anfällen. Dies vor allem, wenn man ihr
zu nahe kam oder sie berührte oder ihr ein Buch aus der Hand wie dem Hund den Knochen
aus dem Maul nehmen wollte – aber verrückt? Verrückt waren viele auf ihrer Station,
sowohl die Patienten als auch der eine oder andere Pfleger, wie sie jetzt wusste.
Und die ganze Welt außerhalb der Mauern war noch verrückter, das ahnte sie schon
lange.
Kapitel 56
Scharmbeck, 12. November 2010
Über zwei Stunden hatte Dräger Pohlmann
in seiner Gewalt gehabt und das getan, was er am liebsten tat: quälen. Plötzlich
herrschte bedrückende Stille. Pohlmanns Schreien und Wimmern war schlagartig verstummt.
Unerträgliche Ungewissheit für Feldmann und Emilie.
Der Riegel
der Tür zum Verlies wurde mit einem lauten Knall, erschreckend wie ein Pistolenschuss,
zurückgezogen. In der rechten Hand hielt Dräger die Waffe Pohlmanns und mit der
linken schubste er den verwundeten Beamten in die Zelle hinein. Martin humpelte
zu der Pritsche, auf der Feldmann kauerte, und setzte sich darauf. Augenblicklich
sackte er in sich zusammen und sehnte sich nach jener angenehmen Ohnmacht zurück,
während derer er keine Schmerzen verspürt hatte. Nun kam das Pochen in den Fingern
und im Kopf mit Gewalt zurück, und er konnte keinen klaren Gedanken fassen außer
dem, der Rache hieß. Ja, er könnte sich vorstellen, diesen Kerl umzubringen. Nicht,
ihn langsam leiden zu lassen, wie Dräger es bei seinen Opfern genoss, sondern einfach
nur ihn zu töten. Ihn auszulöschen, die Existenz zu beenden, ihn von der Bildfläche
verschwinden zu lassen, ganz egal, wie man es nannte, Hauptsache schnell, mit einem
oder mehreren gezielten Schüssen aus seiner Waffe, die er sich unbedingt von Dräger
zurückholen musste.
Dräger blickte
in die Zelle hinein. Ein feistes Grinsen erschien auf seiner hässlichen Visage.
Er richtete die Waffe in den Raum hinein, damit jedem der drei Verängstigten klar
wurde, dass jegliche Ausbruchsversuche sinnlos waren. Niemand würde ihn, den muskulösen,
1,95 Meter großen Mann, überwältigen. Dieser Mann war nicht durch Kraft oder Wut
zu bezwingen. Hier mussten andere Methoden zum Einsatz kommen: Klugheit, Raffinesse,
Verschlagenheit und List hießen in diesem Fall die Waffen.
Nachdem
sich Dräger an seinem Werk sattgesehen hatte, verschloss er die Tür ohne ein Wort.
Ein teuflisches Lachen ließ vermuten, dass der grausamere Teil, weswegen sie hier
eingesperrt waren, noch vor ihnen lag.
Pohlmann
wusste trotz der Schmerzen, dass er dringend nachdenken musste. Er wollte um jeden
Preis am Leben bleiben. Er war der Polizist, der sogenannte Ordnungshüter,
und das war genau das, was er tun musste: die Ordnung wiederherstellen, doch zunächst
musste er sich um seine drei gebrochenen Finger kümmern, die wie gekochte, schlaffe
Spargelstangen an seiner rechten Hand hingen.
*
Martin richtete sich, so gut es
ging, auf und hielt mit der linken Hand unterstützend die blutende rechte. Das Haar
hing schweißnass und blutverklebt im Gesicht, und zusätzlich zu seinem Schnurrbart
gesellten sich die anderen, überwiegend grauen Bartstoppeln dazu. Die Blutkrusten
hingen an seinem linken Nasenloch wie Schwalbennester unter dem Dachfirst. Er atmete
heftig durch den Mund.
»Ich brauche
etwas zum Verbinden«, keuchte er. »Stoff von einem Hemd oder so was und etwas zum
Schienen. Bitte«, flehte er seine Mitgefangenen an, »suchen Sie etwas, womit ich
die Finger schienen kann. Vielleicht liegt was auf dem Boden.«
Angewidert
von derlei Brutalität und seelisch und körperlich entkräftet, erhob sich Alois Feldmann
von seinem Lager. Er kroch auf dem Boden herum, auf der Suche nach irgendetwas,
das als Schiene geeignet war. In der Ecke des Raumes fand er einen Bleistift mit
abgebrochener Miene und hob ihn auf.
»Hier«,
sagte er. »Könnte das funktionieren?« Martin betrachtete den Bleistift und dachte
nach. Für einen Finger würde der Stift reichen, nicht für drei, und er entschied,
den Bleistift für spätere Zwecke aufzuheben.
»Suchen
Sie weiter. Es muss breiter sein, damit es für drei Finger reicht.«
Feldmann
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