Rassenwahn: Kriminalroman (German Edition)
große Rolle spielte. In der sie wichtig, ehrbar
und wertvoll war. In der man sie liebte, in der ihre angebliche Verrücktheit etwas
Besonderes war. Wo ihre beachtliche Fähigkeit des schnellen Diagonallesens bewundert
wurde, wo man von ihr lernen wollte, wie man sich in kürzester Zeit große Mengen
Gelesenes einprägen konnte, indem man in Gedanken systematische und errechnete Eselsbrücken
einbaute, die es einem gestatteten, das Gelernte nie wieder zu vergessen, um noch
nach Jahren Shakespeare, Dickens, Kafka, Brecht, Tolstoi und die vielen anderen
Schriftsteller frei und ohne Fehler zitieren zu können.
Doch was
wäre, wenn – und dieser Gedanke war ihr erst einen Tag zuvor gekommen – es diese
schöne Anderwelt gar nicht gäbe? Was, wenn dort nur Dunkelheit auf einen warten
würde oder, im schlimmsten Fall, jene Menschen, die seit Langem auf sie warteten,
um ihr Werk von damals an ihr vollenden zu wollen? Dann, und nur dann, würde es
sich nicht lohnen, vorzeitig zu gehen, denn es gäbe zwischen dem Diesseits und dem
Jenseits keinen qualitativen Unterschied. Die Hölle vordem Tod war die gleiche
wie nach dem Tod. Zwei Zimmer desselben Hauses, durch eine Tür verbunden, durch
die zu gehen nicht sonderlich schwierig war. Nur dass diese Tür in nur eine Richtung
führte und den Passanten nicht wieder zurückließ, zumindest nicht mehr, wenn eine
gewisse Zeit nach dem Durchtritt verstrichen war. Wenn man sicherstellen könnte,
dass teure Apparate einen nicht zurückholten, wie sie bei ihr zur Anwendung gekommen
waren …
Sie hatte
stets bedauert, zurückgeholt worden zu sein, denn das Licht am Ende des Tunnels
schien heller zu sein als alles, was sie je gesehen hatte. Verheißungsvoll lockte
es sie weiterzugehen, als stünde am Ende jemand mit ausgestreckter Hand, der sie
ermutigte, nicht stehen zu bleiben. Wer oder was dieser Jemand war oder ob überhaupt
jemand sie willkommen heißen würde, wusste weder sie noch sonst ein Mensch auf der
Erde, da, wie man so sagte, noch keiner zurückgekommen war, um berichten zu können.
Emilie hatte
keine Angst vor dem Tod gehabt. Oft hatte sie mit ihm kokettiert, ihn umspielt,
sich auf ihn eingelassen wie ein junger Mann, der einer aufreizenden Prostituierten
am Straßenrand nicht widerstehen konnte. Sie war es gewesen, die die Entscheidung
getroffen hatte. Sie hatte von ihrem freien Willen Gebrauch machen wollen.
In ihren
frühen Lebensjahren war der Tod für sie ein ständiger Begleiter gewesen. Eben noch
hatte man mit seinem Bettnachbarn wortlos gespielt, und im nächsten Moment stand
er in einer Reihe mit zehn anderen, die eine Vitaminspritze bekommen sollten, eigenartigerweise
aber nach den Vitaminen, die als gesund galten, nicht wieder aufstanden. Sie nannten
es Lungenembolie, akuter Herzstillstand, Nierenversagen oder stellten andere Diagnosen,
die wie von einem Dichter aus dem Reich der Fantasie entlehnt worden waren. Auch
sie sollte jene Vitamine bekommen, doch sie hatte sich rechtzeitig, falls nötig,
für mehrere Tage, versteckt und sich den scheinheiligen und garantiert tödlichen
Zugriffen der Häscher entzogen. Sie trieb dieses Spiel so lange, bis an einem Tag
alles anders wurde. Der Tag der Befreiung durch die Besatzungsmächte war für manche
der Tag der Flucht, und für die wenigen Kinder, die noch am Leben waren, der Tag
eines Neuanfangs. Emilie hatte in ihrem Versteck lange ausgeharrt, bis es still
geworden war. Niemand schien mehr nach ihr zu suchen, und sie kroch aus ihrem feuchten,
kalten Verschlag, ähnlich dem, in dem sie gerade saß, hervor und starrte mit großer
Verwunderung die Männer mit Waffen in den Händen an. Es waren andere Uniformen,
als sie sie kannte. Nicht die schwarzen mit dem Totenkopf auf dem Revers, sondern
grüne. Die Männer redeten in einer ihr fremden Sprache beruhigend auf sie ein, und
als sich die anderen Kinder dazugesellten, wusste sie, dass es wieder mal Zeit war,
die Koffer zu packen und umzuziehen.
Diverse
Kinderheime folgten, und es fanden sich Pflegeeltern, die sie zu einer kostenlosen
Putzhilfe ausbildeten. Als sie aufgrund ihres auffälligen Verhaltens wie ein unnützes
Werkzeug weitergereicht worden war und ein Selbstmordversuch misslang, landete sie
in ihrer ersten Nervenheilanstalt. Dort lernte sie erneut verschiedene medizinische
Testverfahren kennen, die sich hauptsächlich auf medikamentöse und psychopharmakologische
Therapien stützten. Warum, um alles in der Welt, konnte niemand akzeptieren, dass
Emilie
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