Rassenwahn: Kriminalroman (German Edition)
es
nicht besser, ein Opfer als ein Täter zu sein?
Ohne an
Emilie zu denken, an irgendeine törichte Etikette oder an Pohlmann und dessen Peiniger,
ließ er sich auf die Knie vor seiner Pritsche sinken und faltete die Hände. Ein
Sturzbach an wütendem Flehen brach aus ihm heraus und ergoss sich in stille und
leise gesprochene Worte, begleitet von Tränen, die ungehindert die Wangen hinunter
im Bart verschwanden oder auf den kalten Betonboden tropften. Er sprach Worte, die
keinem Katechismus und keiner Liturgie entsprachen, sondern aus den Tiefen seiner
Seele zu seinem Schöpfer strömten. Die sich reckten und streckten, um ihr Ziel zu
erreichen, wie kräftige Lachse, die versuchten, den Wasserfall emporzuspringen,
bis sie an ihrem Bestimmungsort angelangt waren. Als er keine Worte mehr fand, die
seine Pein und Seelennot beschreiben könnten, fand er Frieden in einem Gedanken
und einem Plan, der so abwegig war, dass er ihn nicht als von sich stammend wähnte.
Er richtete sich auf und setzte sich zu Emilie. Vorsichtig legte er einen Arm um
ihre bebenden Schultern.
»Alles wird
gut, Emilie. Das verspreche ich Ihnen. Spätestens morgen sind Sie wieder draußen.«
Nicht sicher,
ob sein Plan aufgehen würde, verließ er Emilies Pritsche und kletterte auf seine
eigene. Er zog die Beine an den Körper heran und dachte nach. Er würde alles auf
eine Karte setzen müssen, damit der Plan gelang. Sobald sich die Tür öffnen würde,
wäre seine Stunde gekommen.
Die Stunde
der Gerechtigkeit.
*
Emilie fror und sie war müde. Die
letzte Nacht hatte sie kaum geschlafen, da ihr Körper an diverse schlaffördernde
Medikamente gewohnt war. Benzodiazepine, Barbiturate, Psychopharmaka und dergleichen.
Sie verstand nichts von Pharmakologie. Für sie waren es nur die kleinen Roten und
die bitteren Weißen gewesen, die sie wegen des grausamen Geschmacks mit viel Wasser
hinunterspülen musste. Sie mochte diese Pillen, man konnte sich auf sie verlassen
wie auf eine Schweizer Uhr, die sie zwar nie besessen, aber von der sie in einem
Buch gelesen hatte. Eine halbe Stunde nach der Einnahme entspannten sich die Muskeln,
und ein wohliges Gefühl der Schwere und der Gleichgültigkeit hüllte sie ein. Dann,
nach einiger Zeit, wurde ihr das Buch in den Händen schwer. Ebenso die Augenlider,
die zu klimpern begannen und sich schlossen. Der angenehme Teil der Nacht brach
an. Der Teil, in dem sie die Geräusche der Station nicht mehr hörte. Keine Schreie,
keine Rufe, kein Weinen und Schluchzen. Kein Schimpfen der Pfleger, kein Knallen
der Türen, kein metallisches Klirren der Schlüssel beim Verriegeln der Zimmer. Die
Träume besuchten sie. Selige Träume, je nachdem, welches Buch ihr vor dem Einschlafen
aus der Hand geglitten war.
Sie konnte
nicht sagen, ob dies bei jedem Menschen so war, dass man das träumte, was man soeben
gelesen hatte? Doch bei ihr war es so. Sie konnte den Autor zu weiteren Ehren führen,
indem sie seine Geschichte in ihrem Kopf verfilmte. In ihrem Kopfkino ließ sie die
Helden triumphieren und die Bösen die gerechte Strafe erleiden. Da sie die Gesichter
der Menschen aus ihrer Umgebung kannte, stellte sie in ihren Träumen ein großartiges
Laientheater zusammen. Die, die auf der Station nicht ein Wort herausbekamen, verwandelten
sich zu eloquenten und wortgewaltigen Streitern. Die Lahmen und Behinderten führten
mit Schwertern in den muskulösen Händen durch die Schlacht, und die gemeinen Wärter,
Pfleger und Schwestern fanden sich auf der Seite derer, die um Gnade und Erbarmen
winselten.
Doch nun
wollten ihr auf dieser kalten und unbequemen Pritsche die Augen nicht zufallen.
Sie wusste nicht, ob das, was sie derzeit erlebte, ein düsterer Traum oder ob es
die verzerrte Wahrnehmung einer Scheinrealität war, die durch das Absetzen jeglicher
Medikamente ausgelöst worden war. Und sie hatte kein Buch in der Hand, das für sie
schmerzlichste Detail ihrer misslichen Lage.
Sie hatte
früh in ihrem Leben gelernt, sich von einem Buch aus der Wirklichkeit heraus in
eine andere Realität entrücken zu lassen. Intensiv, real, wie es die subjektive
Wahrnehmung des nüchternen Erlebens des wirklichen Lebens kaum bieten konnte. Sie
hatte gehofft, sich durch ihre Suizidversuche in diese Anderwelt begeben zu können.
Ein Teil einer anderen Geschichte zu werden, in der keine Menschen gequält und gepeinigt
wurden. Eine Welt, in der sie, Emilie Braun oder wie auch immer sie hieß – was sind
schon Namen, dachte sie –, eine
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