Rassenwahn: Kriminalroman (German Edition)
Hände, und zum ersten Mal wurde ihm die Szene von Jesu im Garten
Gethsemane vor Augen lebendig. Der, der wusste, dass er sterben müsse, hatte, so
die Überlieferung, Blut und Wasser in diesem Garten geschwitzt. Hatte zu seinem
Vater im Himmel gefleht, ob nicht der Kelch an ihm vorübergehen könne.
Feldmann
war zehn Tage vor seinem 25. Lebensjahr ein gläubiger Mann geworden. Das wusste
er genau, weil er diesen Tag als einen Tag erlebt hatte, an dem er, ein Blinder,
sehend wurde. Ihm stand die Szene noch deutlich vor Augen, als sei es erst Tage
zuvor gewesen. Er hatte in einer Bibel gelesen, die ihm ein väterlicher Freund geschenkt
hatte. Er las im Johannesevangelium die Geschichte über den guten Hirten und die
Schafe und dass die Schafe seine Stimme hören würden. Ihm war, als höre er die Stimme
Gottes tatsächlich. Er hatte auf einer Bank im Grünen gesessen, es sich dort gemütlich
gemacht, die Jacke für die Sonnenstrahlen des Frühlings geöffnet und das Buch der
Bücher aufgeschlagen. An einer beliebigen Stelle hatte etwas seine Aufmerksamkeit
gefesselt, etwas Wärmendes ihn erreicht, wie ein kleiner, vom Wind getragener Same,
der in sein Herz eingedrungen und dort Wurzeln geschlagen hatte. So hatte für ihn
ein neues Leben angefangen. Er las die Bibel von der ersten bis zur letzten Seite
durch, strich Stellen an und kritzelte große Fragezeichen an den Rand. Er begann,
Literatur zu verschlingen, die mit dem christlichen Glauben zu tun hatte, studierte
alle Bände der Kirchengeschichte und las von den zahlreichen Folterungen, die Menschen
aufgrund ihres Glaubens erdulden mussten. Er dachte nun daran, wie distanziert und
innerlich unbeteiligt er diese Berichte aufgenommen hatte. Sie waren für ihn so
weit weg gewesen, dass sich sein Pulsschlag nicht um ein Zehntel erhöht hatte. Und
nun? Wo befand er sich gerade? Ein Geisteskranker trachtete ihm nach dem Leben,
nicht wegen seines Glaubens, sondern weil … Feldmann dachte nach. Ja, warum eigentlich?
Weil dieser ein Irrer war? War das so leicht, all die Motive seines Handelns auf
diese eine Diagnose zu beschränken? Irre. Unzurechnungsfähig. Unmündig. Nicht gesellschaftsfähig.
Psychisch krank. Das sollte reichen, um Morde zu rechtfertigen? Nein, so einfach
konnte es nicht sein. Die menschliche Seele war deutlich komplizierter. Die Verantwortung
für sein Handeln konnte nur der übernehmen, den man für schuldfähig hielt, den Gutachter
als zurechnungsfähig und straffähig einstuften. Doch wie erklärte man sich all die
Abartigkeiten, zu denen der Mensch fähig zu sein schien? Dinge, die einer dem anderen
antat, sexuelle perverse Verirrungen, bestialische Morde, Zerstückelungen und dergleichen.
Menschen, von denen die Bibel im ersten Kapitel als exzellente Geschöpfe Gottes
sprach, von solchen, die als Ebenbild Gottes geschaffen waren, von denen Gott sagte,
sie seien sehr gut, nachdem er sein Werk betrachtet hatte? Was ist nur aus diesen
Geschöpfen geworden , dachte Feldmann. Wie kann Gott Gefallen an Kreaturen haben,
die schlimmere Dinge taten als räuberische Tiere, die ihren primitiven Instinkten
folgten?
Vor Feldmanns
Augen drehte sich alles, und er fühlte sich wie in einem Strudel, der ihn in einen
tiefen Schlund ziehen wollte. Ein Sog, der ihn in die Verzweiflung führte, in die
Hoffnungslosigkeit und in die schwärzeste Dunkelheit, und er stellte sich die Frage,
ob er in der Lage wäre, Dräger zu töten, wenn er die Gelegenheit bekäme.
Szenen des
Alten Testamentes flackerten vor seinem inneren Auge auf. Szenen diverser Kriege
und blutiger Schlachten, in denen es alles andere als friedlich zuging. Wo Gnade
und Barmherzigkeit Worte waren, die, während das Schwert die Leiber durchbohrte,
nicht vorkamen.
Töten im
Namen Gottes? Galt noch das Alte Testament? Und war dies nicht genau jenes verabscheuenswürdige
Motiv, das die sogenannten islamischen Krieger Gottes an den Tag legten, wenn sie
ihre Körperteile nach dem Zünden ihrer selbstgebastelten Bomben in alle Himmelsrichtungen
verstreuten und mit ihnen zig Unschuldige mit in den Tod rissen? War nicht Jesus
der Mann, der den Frieden brachte, sowohl äußerlich als auch innerlich?
Was, wenn
es darum ging, einen Menschen töten zu müssen, um sich und zwei andere zu retten?
Würde es in diesem Fall nicht juristisch als Notwehr zu werten sein? Was würde sein
Gewissen dazu sagen? Was würde Jesus, sein Herr und Meister, was Gott, der Vater,
der im Himmel auf ihn wartete, dazu sagen?
Wäre
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