Rassenwahn: Kriminalroman (German Edition)
auf dem kalten und harten Betonboden. In dem diffusen Licht, das von außerhalb
des Raumes eindrang, schwebten feine Staubpartikel. Feldmann erhob sich resigniert,
er fand nichts, womit er Pohlmann hätte helfen können. Stattdessen nahm er den unteren
Rand seiner Stoffweste zwischen die Hände und riss einen etwa 20 Zentimeter langen
und acht Zentimeter breiten Streifen heraus. Damit setzte er sich Martin gegenüber
und versuchte, während er gegen die Übelkeit ankämpfte, die Fragmente der Finger,
die nur durch zerschundene Haut zusammengehalten wurden, zu bandagieren. Mit zittriger
Hand begann er, den Stoff erst um den Mittelfinger zu wickeln und dann um den nächsten
und den übernächsten. Er sah nicht hin, wie Martin die Zähne vor Schmerz zusammenbiss
und ihm der Schweiß die Schläfen hinunterfloss. Er hörte nur, wie Martin die Luft
mit einem langgezogenen Zischen durch die Zähne zog, und brachte den Verband mit
einem vorsichtigen Knoten zum Abschluss. Alles in allem, wenn man bedachte, dass
Feldmann ein Mann des Geistes und des Verstandes war und er nicht ein Mal in seinem
Leben einen Verband angelegt hatte, sah diese Schienung mit dem gemusterten Paisleystoff seiner Weste
nicht schlecht aus. Es würde zumindest den Zweck erfüllen, die Finger zu stabilisieren.
»Danke«,
hauchte Martin und zog die Hand an seinen Körper, um sie vor weiteren Erschütterungen
zu bewahren. Er ließ sich auf die Seite fallen, während die Beine noch ab den Knien
seitlich über den Rand der Pritsche hingen. Sofort umfasste Feldmann die Waden und
hievte sie auf das Behelfsbett. Auch Emilie hatte sich hingelegt und hielt die Augen
geschlossen. Nun stand Feldmann unschlüssig in dem kargen Raum und sah sich um.
Es war kein Platz mehr für ihn. Er setzte sich auf den kalten Boden und lehnte sich
an die Wand. Er fror. Er vermisste seine englische Barbourjacke, die er sich von
einem Besuch in London vor einem Jahr mitgebracht hatte. Sie schützte gut bei schmuddeligem
Regenwetter, aber sie wärmte nicht. Erst recht würde sie es in dieser Zelle nicht
vermögen, in der man fröstelte, sobald man an den psychopathischen Folterer dachte.
*
Nach einer Stunde, in der Martin
in einen traumlosen Schlaf gefallen war, öffnete Dräger die Tür und brachte ein
Tablett hinein. Es waren drei Teller mit einem undefinierbaren Mus darauf sowie
drei Gläser mit Wasser. Er stellte das Tablett direkt hinter dem Zelleneingang auf
den Boden und warf, bevor er den Raum verschloss, noch eine Zweierreihe Tabletten
hin. Mit zusammengekniffenen Augen las Pohlmann, um welchen Wirkstoff es sich dabei
handelte: Dolomo. Ungläubig und auf eine paradoxe Weise dankbar, bedachte er Dräger
mit einem kurzen Blick aus dem rechten Auge, das nicht zugeschwollen war. Er bemerkte
das Tablett mit dem Essen, eine undefinierbare gelbliche Masse. Dräger warf noch
drei platt zusammengefaltete graue Decken mit zwei schwarzen Streifen darauf auf
den Boden zwischen die beiden Pritschen. Die Waffe steckte in seinem vorderen Hosenbund.
Er stufte seine Opfer nicht als gewaltbereit und für ihn gefährlich ein. Schon gar
nicht, nachdem er Pohlmann die Finger seiner rechten Hand gebrochen hatte. Die anderen
wollte er sich für den nächsten Tag aufheben, als Auftakt zu einem grausamen Spiel,
das nur einem in diesem gottverlassenen Keller Vergnügen bereiten sollte, und zwar
einzig und allein ihm selbst.
*
Alois Feldmann erhob sich aus seiner
Sitzposition. Obgleich der 70-Jährige sich regelmäßigen Gymnastikübungen unterzog,
bereitete ihm an diesem Tag das Aufstehen Mühe. Seine Glieder waren steif von der
nassen Kälte, die in dem Verlies herrschte. Vor allem fühlte er sich dem Tode so
nahe wie in seinem ganzen Leben noch nicht. Ja, er hatte einen Plan gefasst, doch
er war sich nicht sicher, ob er ihn auch tatsächlich durchziehen konnte. In Anbetracht
von Folter und Schmerzen begann seine Seele zu streiken. Sie versagte ihm jegliche
Unterstützung für das, was vor ihm lag. Er fühlte sich matt und leblos wie eine
fortgeworfene Bananenschale. Sein Plan galt vor allem den beiden anderen in der
Zelle. Dem verletzten und notdürftig zusammengeflickten Kommissar und Emilie, die
seit ihrer Ankunft in diesem Keller kein einziges Wort gesprochen hatte. Sie ließ
keinerlei Anzeichen ihrer Befindlichkeit durchsickern und wirkte wie lebendig begraben.
Feldmann
taxierte das Essen auf dem Tablett. Zunächst reichte er Martin das Glas Wasser.
Dieser führte es
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