Rassenwahn: Kriminalroman (German Edition)
Nach diesem Leben kommt nichts mehr. Wenn ich sterbe, werden meine Knochen
im Boden vergammeln und ein paar Maden eine Weile am Leben erhalten. Das ist alles.«
»Und was
ist, wenn Mister Superschlau sich irrt? Was wäre, wenn ich doch recht hätte? Was
wäre, wenn wir die Wahl hätten, uns für ein Leben mit Gott oder ohne ihn zu entscheiden?
Was wäre, wenn Hölle bedeuten würde, die ganze Ewigkeit ohne Gott zu verbringen?
Sich die ganze Zeit in der dunkelsten Finsternis darüber zu ärgern, dass Sie auf
den alten Feldmann nicht gehört haben? Was dann? Wissen Sie was, Herr Kommissar?
Sie können nur gewinnen und nichts verlieren. Denken Sie mal heute Nacht darüber
nach. Es ist vielleicht Ihre letzte Nacht.«
»Na schön,
Feldmann. Vielleicht tue ich es für ein paar Minuten. Doch ich kann mir nicht vorstellen,
dass Gott, falls es ihn überhaupt gibt, es so toll findet, wenn ich ihm kurz vor
meinem Tod die Hand schüttle und so tue, als wäre ich schon immer ein netter Kerl
gewesen.«
»Die Letzten
werden die Ersten sein«, erwiderte Feldmann.
»Sie müssen
auch immer das letzte Wort haben, was? Ach, übrigens. Falls wir morgen Abend doch
noch nicht tot sind, schlafen Sie auf der Pritsche und ich auf dem Boden, okay?«
»Abgemacht.«
*
Es war gegen elf Uhr, als Martin
endlich die Augen schließen konnte, um sich einem unruhigen Schlaf hinzugeben. Es
wurde Zeit für ihn, die Wirkung der Tablette ließ nach. Die Schmerzen im ganzen
Körper kehrten früher als erwartet zurück, und nur ein tiefer Schlaf konnte verhindern,
dass er diese auch spürte.
Emilie schien
zu schlafen. Sie hatte sich, während Martin mit Feldmann gesprochen hatte, kein
einziges Mal gerührt.
Feldmann
hatte sich in der Decke eingerollt und ebenfalls zur Wand gedreht. Er schien still
in Gedanken zu beten, gelegentlich entwichen ihm leises Wimmern und Schluchzen,
als er mit seinem Schicksal haderte und es vor Gott brachte.
In dem Moment,
als die Nacht am dunkelsten war und die Stille am bedrückendsten, hörte er ein sonderbares
Geräusch von draußen an sein Ohr dringen. Es klang wie das Gurren von Tauben.
Weiße Tauben,
denen die Federn gerupft wurden.
Kapitel 57
Scharmbeck, 13. November 2010
Die Nacht hatte den drei Gefangenen
nicht sonderlich viel Erholung gebracht, außer Emilie, wie es schien. Sie erwachte
gegen sieben Uhr, schmatzte genüsslich und streckte sich. Sie richtete sich auf
und suchte ihre durchgetretenen Pantoffeln. Sie suchte mit den Augen den Boden vor
ihrer Pritsche ab und sah darunter nach, doch es gab in dieser Zelle keine Hausschuhe.
Es gab einiges nicht, erst recht keine Freiheit. Dieser Umstand schien sie wenig
zu stören – sie hatte die meiste Zeit ihres Lebens hinter verschlossenen Türen verbracht.
Sie wirkte ausgeruht und entspannt, sei es, weil sie sich in ihrer geistigen Beschränktheit
dem Ausmaß der Situation nicht bewusst war oder weil sie zwar begriff, dass sie
die Gefangene ihres ehemaligen Pflegers war, es sie aber nicht im Geringsten störte.
Sie saß auf ihrem Lager und schaute sich im Raum um, der von einem oben liegenden
Schacht ein wenig Tageslicht erhielt. Die kratzige Wolldecke faltete sie vier Mal,
bis sie ein kleines Bündel ergab, das sie ans Kopfende legte. Sie setzte sich auf
die Pritsche und harrte der Dinge, die da folgen sollten. Ihre Hände ruhten auf
den Knien und die Beine waren aneinandergelegt. Sie suchte Geborgenheit in der Symmetrie
ihrer Gliedmaßen, ein kleiner Teil der Ordnung, die sie selbst beeinflussen konnte.
Dann beobachtete
sie, wie Martin und Alois Feldmann die Schatten der Nacht verjagten und sich der
Hölle des Tages stellten.
Martin Pohlmann hatte schon bessere
Nächte in seinem Leben erlebt. Eingeschlafen war er zügig und war sogleich in eine
sonderbare Traumwelt eingetaucht. Er hatte von jenen Dämonen geträumt, von denen
am Abend zuvor Feldmann erzählt hatte. Einer von ihnen, die ihm in der Nacht erschienen
waren, hatte die Fratze von Dräger. Er hatte lange, spitze Ohren und buschige Augenbrauen
gehabt und am Kinn ein Ziegenbärtchen. Die Geräte, die er, obwohl er auf dem Folterstuhl
angeschnallt war, aus den Augenwinkeln gesehen hatte, waren im Traum viel größer
und monströser. Die Zange, mit der Dräger seine Finger gebrochen hatte, war in seinem
Traum ein gigantischer Seitenschneider. Auch der Schmerz, den er erlebt hatte, wurde
von seinem Gehirn in düstere Bilder verwandelt. Rot war die dominante Farbe, und
dies war in
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