Rassenwahn: Kriminalroman (German Edition)
unfachmännisch aufgetragen, wie es ein Kind getan hätte.
Nach einer
Weile des einsamen Klatschens erhoben sich spontan vier, fünf weitere Personen von
ihren Plätzen und stimmten in den Applaus mit ein. Bereits nach zwei Minuten standen
über 80 Prozent der Zuhörer und gaben nicht dem Redner Alois Feldmann Standing Ovations,
sondern dem Menschen Siegfried Strocka alias Professor Hans Keller, der an diesem
Tag sein Outing hatte als jemand, der, obwohl als Therapeut für unzählige Menschen
ein Segen, sich selbst nicht hatte retten können.
Nach der
Veranstaltung gingen die meisten Besucher mit gemischten Gefühlen nach Hause. Feldmann
hatte es geschafft, sie aus ihrer Lethargie aufzuwecken und ihnen schwer verdauliche
Kost mit auf den Weg zu geben.
Martin versuchte,
möglichst unbehelligt an den Menschenmassen und vor allem an Dr. Schillig vorbeizukommen
und zu Feldmann und Emilie Braun zu gelangen. Er war von Feldmanns Rede und Emilies
Mut beeindruckt gewesen. Vor allem von Emilies ehrlicher wie spontaner Reaktion,
Feldmann Beifall zu spenden.
»Hallo,
Alois.«
»Hallo,
Martin. Schön, dich zu sehen. Was machen die Wunden?«
»Sie heilen,
wenn auch nicht so schnell, wie ich es erhofft habe.«
»Bist halt
auch nicht mehr der Jüngste.« Martin lachte.
»Das sagt
der Richtige.« Martin ergriff Alois Schulter. Sie duzten sich seit Feldmanns Besuch
im Krankenhaus.
»Das hast
du gut gemacht. Ich war kurz davor einzuschlafen.« Feldmann nickte. Eigentlich war
ihm nicht nach Scherzen zumute. Von den 20 Prozent, die nicht geklatscht hatten,
hatte er böse Blicke geerntet.
»Hast du
Emmi gesehen?«, fragte Martin und sah sich im Saal nach ihr um.
»Ich glaube,
sie ist schon raus. Warum?«
Martin setzte
einen geheimnisvollen Blick auf. »Ich möchte ein Versprechen einlösen.«
Feldmann
nickte. »Sehen wir uns noch?«
»Bestimmt.
Ich muss ab Montag zu einer dreiwöchigen Reha. Komm mich doch mal besuchen. Eine
orthopädische Klinik oben an der Ostsee.« Martin nahm einen Stift und einen Zettel
und kritzelte eine Telefonnummer darauf. »Hier. Ruf mich einfach an.«
Feldmann
winkte ihm hinterher. Martin Pohlmann war auf dem Weg zu jener Station, die er hoffte,
zum letzten Mal aufsuchen zu müssen.
*
Pohlmann beschritt diverse Gänge,
um vom Vorlesungssaal zu den Stationen zu kommen. Er folgte den Hinweisschildern
und bog in einen Flur ein, der zur geschlossenen Abteilung führte. Da sah er sie.
Ihre unverkennbar tippelnden, schnellen Schritte, wie eine Geisha in einem zu engem
Rock. Als er ihr näher kam, hörte er sie murmeln. Sie war in eine ihrer Geschichten
eingetaucht. Er holte sie ein und vergaß, dass niemand Emilie Braun ungestraft anfassen
durfte, außer ihr Retter. Beherzt griff er an ihre linke Schulter und hielt ihren
zügigen Schritt an. Erschreckt wandte sie sich um und wollte eine der üblichen Reaktionen
starten, bis sie ihn sah. Sie blickte in zwei gesunde Augen des Mannes, der sein
Leben für sie riskiert hatte. Eine Tatsache, die sie in dem Verlies durchaus wahrgenommen
hatte. Sie würde dies niemals vergessen. Sie kannte ihre Peiniger – und sie erkannte
ihren Retter.
»Hallo,
Herr Kommissar«, erklang erfreut ihre piepsige Stimme.
»Martin.
Sagen Sie einfach Martin zu mir, okay?«
Sie nickte.
»Wie geht es Ihnen, Herr Martin?«
Er lachte.
»Gut. Und Ihnen?«
Emmi stülpte
die Lippen und faltete erst die Hände, löste sie und verschränkte sie am Rücken.
Sie wusste nicht, wohin mit ihnen. Eine einsame Träne kullerte aus ihrem rechten
Auge die faltige Wange hinunter.
»Liza ist
gestorben.«
Martin dachte
einen Augenblick lang nach. Wer war noch mal Liza? Schmerzlich fiel es ihm
ein. Die begnadete Sängerin und beste Freundin von Emmi. »Das tut mir sehr leid
für Sie.«
»Ist mitten
im Lied umgefallen, obwohl es noch nicht zu Ende war. Schade.« Martin überlegte,
was Emmi als schade empfand: das nicht vollendete Lied oder den Herztod der Sängerin.
»Emilie?«,
sprach Martin sie an und forderte ihre Aufmerksamkeit von ihr ein.
»Haben Sie
heute schon was vor?«
Sie grinste.
Was sollte sie schon vorhaben? »Um eins ist Essen, und Karl wollte, dass ich noch
seinen Rat bei ihm einhole, jetzt, wo ich immer so modische Sachen trage.«
Martin blickte
schmunzelnd an Emilie herab und vermutete, es sei keine schlechte Idee, den Rat
des Modezaren einzuholen. Ob allerdings tatsächlich der kleine de Vito der Richtige
für diesen Job war … »Also, wenn Sie nichts Besseres zu
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