Rassenwahn: Kriminalroman (German Edition)
Brief von Professor Keller an Sie und Ihr Buch.« Martin legte ehrfürchtig die
in Leder gebundenen Seiten auf den Tisch. Er strich mit Achtung über das Werk. »Ich
finde, es ist verdammt gut geworden. Sie haben Talent, Emilie. Wirklich.«
Emilie sah
Martin fragend an. Sie hatte soeben ein Lob bekommen und wusste nicht, wie man darauf
reagierte. Sie nahm ihr Buch vom Tisch und drückte es an sich, als würde man ein
Kind herzen.
»Ich finde,
Sie sollten damit weitermachen.« Martin deutete mit einer Kopfbewegung auf den Schatz,
den Emilie fest umklammerte. »Sie schreiben richtig gut. Ehrlich.« Martin bemerkte,
wie Emilie errötete. Sie schien die Anerkennung zu genießen. Es hatten sich einige
Fragen nach der vollständigen Lektüre des Buches und des Briefes aufgedrängt. Martin
glaubte, den Augenblick gefunden zu haben, in dem er sie stellen könne.
»Haben Sie
gewusst, dass Gerhard Strocka Ihr Vater war?« Martin hoffte, dass Emilie auf diese
Frage nicht mit einem ihrer seltsamen Anfälle reagieren würde. Sie blieb zunächst
stumm, wie sie es häufig tat. Martin kannte dieses Spielchen und betrachtete das
Spiel der Wellen.
»Ich habe
ihn an der Stimme erkannt.«
Martin drehte
sich zu ihr um. »Wann?«
»Am ersten
Tag des Prozesses vor über zwei Jahren. Alles an ihm hatte sich verändert, sein
Aussehen, alles, aber die Stimme klang noch genauso kalt wie damals.«
»Daran können
Sie sich erinnern?«
»Ich bin
vielleicht ein bisschen verrückt, das mag sein, aber ich habe ein gutes Gedächtnis
– ich kann Dinge besser im Kopf behalten als andere Menschen.« Martin nickte und
erinnerte sich an die Passagen, die sie ihm frei aus verschiedenen Werken zitiert
hatte.
Emmis Blick
wurde starr. »Er stand neben meinem Bett, als ich vier war. Er hatte böse Augen
und einen Totenkopf auf der Mütze und am Kragen. Er wollte mich nicht haben. Er
hasste mich. Er hat gesagt, er will mich nie wieder sehen. Er und der andere Mann
sprachen über mich, als wäre ich gar nicht im Zimmer, als gäbe es mich nicht. Ich
habe mir seine Stimme gemerkt. Mein ganzes Leben lang.«
»Wie haben
Sie reagiert, als Sie erfuhren, dass Hans Keller Ihr Bruder …«, Martin korrigierte
sich, »… Ihr Halbbruder war?«
»Ich habe
mich umgebracht. Ich hab es zumindest versucht. Ich wollte ihm nachgehen.« Emilie
machte eine Pause, in der sie nachdachte. »Ich habe es gespürt, lange bevor er es
mir geschrieben hatte. Ich wusste nicht, was ein Bruder überhaupt ist, aber wenn
man das Wort ›Bruder‹ beschreiben soll, dann fällt mir Hans ein.«
Sie schwieg
eine Weile und lächelte. »Sie mögen Hildegard sehr, nicht wahr?«
Martin sah
sie verdutzt an. »Welche Hildegard?«
»Na, Hildegard
aus Lüneburg«, erwiderte sie mit einer Selbstverständlichkeit, dass man sich fragen
musste, wer von ihnen beiden verrückt war. Nach einer Weile hakte Martin nach. »Meinen
Sie die Frau, mit der Sie sich so lange unterhalten haben? Braune Haare, braune
Augen, weicher Pulli.« Emilie nickte mit leuchtenden Augen.
»Genau.
Meine Hildegard.« Martin begann zu schwitzen. Ihm fehlten die Worte. Emilie litt
doch noch an Wahnvorstellungen.
»Also mir
hat sie sich als Catharine vorgestellt.«
»Mir hat
sie sich gar nicht vorgestellt«, konterte Emilie. »Sie war da, als ich die Männer
auf den Fotos gesehen habe. Sie stand neben mir. Sie ist zu mir zurückgekommen.«
Martin erinnerte sich an den Eintrag in Emilies Akte, in dem von einer Hildegard
Unger die Rede war, der ersten Krankenschwester in Steinhöring, die in Bremen im
Heim Friesland an Tuberkulose gestorben war. Er vermutete, dass Catharine etwa in
demselben Alter ist wie damals diese Hildegard und sich vielleicht sogar ähnlich
gesehen hatten. In Martins Kopf öffneten sich Schleusentore, und die Dinge wurden
klarer als je zuvor: Hildegard Unger war die erste Vertrauensperson, mit der Emilie
gesprochen hatte. Obwohl sie erst vier Jahre war, als Frau Unger starb, blieb diese
Person in Emilies Gedächtnis unauslöschbar verankert, und als sie Catharine kurz
nach ihrem Anfall sah und die Ähnlichkeit in Gestalt und Stimme bemerkte, hielt
sie sie für die zurückgekehrte Krankenschwester Hildegard Unger. Das war der Grund,
warum sie ihr vier Stunden lang alles aus ihrem Leben erzählte, was in der Zwischenzeit,
in den letzten 66 Jahren, passiert war.
Martin nickte
und grinste. »Ja, ich mag sie, die Hildegard.«
Emmi lehnte
sich zurück. »Ich auch.«
Kapitel 67
Timmendorf, 19. Dezember
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