Rassenwahn: Kriminalroman (German Edition)
Keller glaubte
bis zu seinem Tod, selbst ein Mörder zu sein.« Feldmann ließ die schockierende Nachricht
eine Weile sich setzen, wie feiner Schnee, der zu Boden rieselt. »Vor zwei Jahren
starb ein Mann mit dem Namen Gerhard Strocka. Strocka war wie Franz Wegleiter ein
SS-Mann der übelsten Sorte, ein mehrfacher Mörder, dessen Taten nie nachgewiesen
werden konnten. Strocka lebte viele Jahre als scheinbar unbescholtener Bürger unter
uns. Der nette alte Herr von nebenan, dem Sie vielleicht die schwere Mülltüte abnehmen
würden.« Erneut holte Feldmann Luft und griff sich an die Brust. Nach einem Schluck
Wasser erklärte er weiter: »In einer öffentlichen Gerichtsverhandlung dann, bei
der Strocka als Zeuge vernommen werden sollte, verhöhnte der bereits 89-jährige
Mann die Kläger des Verfahrens. Er bespuckte die Menschen, die in der Presse als
Gottes verlorene Kinder bezeichnet wurden. Unter diesen Leuten, die er verbal attackierte,
waren zwei Menschen, die er selbst gezeugt hatte. Er machte sich über sie lustig,
nannte sie ein missglücktes Experiment, einen Irrtum des Führers und musste schließlich
von den Gerichtsdienern aus dem Saal entfernt werden. Angeblich war er alkoholisiert.
In der darauffolgenden Nacht wurde Gerhard Strocka in seinem Hotelzimmer erschlagen
aufgefunden. Dieser Mann, meine Damen und Herren, Gerhard Strocka, war der leibliche
Vater von Professor Hans Keller.«
Wieder ging
ein Raunen durch den Saal, und auch Martin saß auf der vordersten Kante seines Stuhles,
um kein Wort von Feldmann zu verpassen.
»Hans Keller
wurde als Siegfried Strocka in einem Lebensbornheim geboren und hat der ganzen Welt
einen Mann präsentiert, der er gar nicht war. Er konnte nicht anders. Er kämpfte
sein Leben lang gegen die Gene eines Mörders und wurde schließlich selbst zu einem.
Zumindest glaubte er das in den letzten zwei Jahren, bis zu dem Tag, an dem man
ihn erschossen hatte. Ja, meine Damen und Herren, es ist wahr. Hans Keller hat sich
nicht selbst das Leben genommen, wie man Sie glauben machen wollte. Hans Keller
wurde das Opfer des Serienkillers von Hamburg, doch das ist heute nicht mein Thema.
Hans lebte die letzten zwei Jahre in dem Glauben, er hätte seinen Vater mit einem
Schlag auf den Kopf umgebracht. Er stellte sich nicht der Polizei, weil er seine
Schutzbefohlenen nicht im Stich lassen wollte. Er hat nie erfahren, dass ein anderer,
der nach ihm kam, die tödliche Tat begangen hatte. Aber in seinen eigenen Augen
hielt er sich für einen Mörder, der glaubte, dass er den Genen seines Vaters nicht
entkommen konnte.«
Feldmann
musste eine Pause einlegen, weil er die Tränen nicht zurückhalten konnte. Er schnäuzte
sich die Nase direkt vor dem Mikro. Es klang wie das Tosen des Pazifiks.
»Warum,
meine Damen und Herren, ist das heute wichtig?« Feldmann sah in die erstaunten Gesichter
des Publikums.
»Weil es
heute um Vergebung geht und er Sie, seine Kollegen und Kolleginnen, um Verzeihung
bittet. Vergeben Sie ihm dafür, dass er Ihnen gegenüber nicht aufrichtig gewesen
ist. Ja, er hat Gerhard Strocka auf den Kopf geschlagen. Er wollte sich für den
Hohn und den Spott rächen, den ein mehrfacher Mörder ungestraft der Welt entgegenschleuderte.
Er dachte an Selbstjustiz, weil er nicht damit rechnete, dass man Strocka jemals
noch überführen würde. Er handelte nicht rational, sondern im Affekt. Er schlich
in das Hotelzimmer seines Vaters, und all die Wut, die Verletzung über die Ablehnung,
die er durch seinen Vater erfahren hatte, brach sich Bahn. In einer einzigen Sekunde,
für die er zwei Jahre seelische Höllenqualen litt, verlor er seine Beherrschung
und wurde Mensch. Dieser Mensch, meine Damen und Herren, bittet Sie heute um Vergebung.
Jene Vergebung, die ich in wenigen Tagen Franz Wegleiter zusprechen muss.« Feldmann
sah zu Boden. »Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.«
Mit diesen
Worten verließ Alois Feldmann das Rednerpult und stieg mit weichen Knien die Stufen
zu seinem Platz hinunter. Er hinterließ eine schockierte und schweigsame Zuhörerschaft.
Diese beinahe körperlich spürbare und schmerzhafte Stille wurde, wie es schien,
nach geraumer Zeit von einem einzelnen Klatschen unterbrochen. Es war das Klatschen
einer zierlichen alten Frau in grell zusammengewürfelter Kleidung aus den Siebzigern.
Ihre grauen Haare standen ihr wie nach einem Stromschlag vom Kopf ab, der schwarze
Lidstrich unter ihren Augen wie auch die rote Farbe auf ihren Lippen waren übertrieben
und
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