Rassenwahn: Kriminalroman (German Edition)
hindurch nicht auf seinem Platz in der ersten
Reihe entdecken können. Von Ferne sah er ihn aufstehen und erkannte den markanten
grauen Kinnbart, der im Licht der Strahler silbrig schimmerte.
Alois Feldmann
trat hinter das Pult und stellte sich das Mikro auf seine Körpergröße ein. Er räusperte
sich zwei Mal, tippelte von einem Fuß auf den anderen und wurde von einem gespannten
und schweigsamen Publikum erwartet.
»Verehrte
Damen und Herren, geehrter Herr Professor Weinrich. Ich habe die Ehre, hier heute
vor Ihnen sprechen zu dürfen. Die meisten von Ihnen werden mich nicht kennen. Daher
möchte ich mich Ihnen gerne vorstellen. Mein Name ist Alois Feldmann. Ich bin –
ich war katholischer Geistlicher und habe Herrn Professor Keller vor über drei Jahren
kennengelernt. Ich bin vor 70 Jahren in einem Lebensbornheim bei München zur Welt
gekommen und mein Vater, den ich trotz fortgeschrittenen Alters erst jetzt kennenlernen
werde, ist ein bislang nicht verurteilter Massenmörder.« Feldmann legte eine Sprechpause
ein und schluckte den faden Geschmack seines Speichels hinunter.
Er fasste
sich wieder und fuhr fort. »Dieser Mann, mein Vater, wurde gestern aufgrund der
unermüdlichen Verdienste von Professor Hans Keller, den wir hier heute ehren, und
einem ganz besonders mutigen Polizeibeamten verhaftet. Es handelt sich bei den Berichten
um den Mann, von dem seit gestern alle Tageszeitungen in Deutschland berichten,
den sogenannten Henker von Blankenese: Franz Wegleiter. Selbst wenn die Medien diesen
Titel zu Gunsten höherer Auflagen gewählt haben, passt er zu diesem Mann vortrefflich.
Neue, brisante Unterlagen aus dem Bundesarchiv von Berlin, die der besagte Kripobeamte
ausgegraben hatte, wurden dem Staatsanwalt überreicht, dem damit das letzte Puzzleteilchen
in die Hand gegeben wurde, um Franz Wegleiter nach so vielen Jahren überführen zu
können. Ich, der ich viele Jahre mit meinem Glauben gehadert habe, darf aufgrund
der Verdienste dieser beiden Männer wieder an die Gerechtigkeit glauben. Dennoch
ist dieser Franz Wegleiter, dem ich am nächsten Montag Auge in Auge gegenübertreten
werde, mein biologischer Vater. Er ist der Mann, der für meine Existenz verantwortlich
ist. Er ist mein Vater, obgleich ich ihm diesen Titel als Sohn nicht verleihen möchte.
Er war nie für mich da, hat sich nie für mich interessiert und genau genommen mich
meiner Identität und meiner Wurzeln beraubt. Jetzt, nach so vielen Jahren, lerne
ich ihn kennen und weiß schon jetzt, welche harte Aufgabe auf mich wartet. Wenn
ich ihm gegenüberstehe, wird es meine Pflicht sein, ihm zu vergeben, bevor er aus
dem Leben scheidet.« Feldmann unterbrach seine Rede und nahm einen Schluck Wasser,
das unter dem Pult für ihn bereitstand. Seine Hand zitterte. Obwohl er es gewohnt
war, vor Menschen zu sprechen, schien ihn diese Rede über Gebühr anzustrengen. Warum
dies so war, sollte das Publikum in den folgenden Minuten erfahren.
»Meine Damen
und Herren, Sie fragen sich zu Recht, warum ich Ihnen das erzähle. Es geht doch
eigentlich um Professor Hans Keller und nicht um mich.« Feldmann ließ erneut eine
kleine Pause entstehen. Es war so still im Auditorium, dass es niemand wagte zu
atmen. Vergessen war alle Müdigkeit.
»Heute,
meine Damen und Herren, ehren wir das Lebenswerk dieses Mannes, aber es geht auch
um die Wahrheit über Professor Hans Keller. Und über Schuld. Genauer gesagt, über
die Relativität der Schuld.«
Ein Raunen
ging durchs Publikum. Viele wandten sich ihren Nachbarn zu und wechselten einige
Worte mit ihnen. Feldmann hob die Hand und brachte die Zuhörer zum Schweigen.
»Ich weiß,
man soll die Toten ruhen lassen, das ist richtig. Ich habe unzählige Beerdigungen
abgehalten. Wer sollte das besser wissen als ich? Genauso heißt es, man soll den
Toten nichts Schlechtes nachsagen – auch das ist korrekt. Doch ich möchte hier und
heute mit den Gerüchten aufräumen, die hinter vorgehaltener Hand seit über zwei
Jahren getuschelt werden. Hans Keller war ein aufrichtiger Mann, und ich glaube,
er würde wollen, dass Sie das wissen, was ich Ihnen jetzt zu erzählen beabsichtige,
bevor die Medien Halbwahrheiten veröffentlichen, die seinem Ruf posthum schaden
würden.« Die Veranstalter der Ärztekammer rutschten unruhig auf ihren Stühlen hin
und her. Sie befürchteten Offenbarungen, die das Ansehen der Ärzteschaft ankratzen
könnten.
Ungeachtet
ihrer Befürchtungen, fuhr Feldmann fort. »Meine Damen und Herren, Hans
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