Rassenwahn: Kriminalroman (German Edition)
die Stätte früherer Erinnerungen an seine Verlobte Sabine Talius
verlassen zu können, und hatte ganz und gar nicht damit gerechnet, nach so kurzer
Zeit wieder zurück zu sein. Nun holten ihn der Schmerz und die Leere schneller und
unerwartet heftig wieder ein. Die Erinnerung an den Unfall, das blutverschmierte,
leblose Gesicht, der Körper wie der einer bizarren Puppe verrenkt.
Die Kollegen
gaben ihm keine Schuld, der Lastwagenfahrer hatte bereits 14 Stunden Fahrzeit hinter
sich. Doch er vergab sich dennoch nicht. Eine Teilschuld lastete wenigstens auf
ihm, denn hätte er an dem Abend auf das Bier und den Grappa beim Italiener verzichtet,
wären seine Ausweichreaktionen vermutlich besser gewesen. Dass sich Sabine nie anschnallen
wollte, obwohl er sie oft und eindringlich dazu aufgefordert hatte, war sicher nicht
seine Schuld. Mit arretiertem Gurt wäre ihr Körper nicht durch die Frontscheibe
katapultiert worden, die ihre Halsschlagader aufgeschlitzt hatte.
Die Erinnerung
an damals stand ohne den Schleier der verstrichenen Zeit vor seinen Augen. Er hielt
sie im Arm, als sie starb. Sprechen konnte sie nicht mehr, sie sah ihn nur mit aufgerissenen,
feuchten Augen an und wollte das unfassbar Unausweichliche nicht akzeptieren. Das
warme Blut sprudelte pulssynchron zwischen seinen Fingern entlang, mit denen er
die Hauptschlagader zudrücken wollte, doch nach einiger Zeit war kein Herzschlag
mehr da, der das Blut sprudeln ließ.
Nach der
Beerdigung sprachen Sabines Eltern kein Wort mit ihm. Sie mochten ihn sowieso nie,
ihn, den unangepassten Rebellen, der auf so manche gesellschaftliche Konventionen
pfiff. Was also sollte er noch in dieser Stadt, in diesem Land, in dem er unerwünscht
war.
Eine psychiatrische
Therapie brachte auch nicht den erhofften Erfolg. Er plante sechs Monate lang seine
Ausreise, besorgte sich alle nötigen Papiere und klärte die Erbangelegenheiten mit
seinem Vater, der ihn ebenfalls hasste. So empfand er es wenigstens.
Doch nun
war er wieder in Hamburg und fühlte sich hilflos im Umgang mit dem gefühlsmäßigen
Chaos in seinem Kopf. Er schlurfte ins Badezimmer, öffnete den Arzneimittelschrank
und fand eine Aspirin, die ihn auf die Beine bringen sollte. Anschließend stellte
er sich unter die Dusche und überlegte, wie er diesen Tag überleben wollte. Erst
ein gepflegtes Frühstück mit starkem Kaffee. Danach würde er sich Lorenz vorknöpfen,
ihm die dämliche Akte an die Brust drücken, zusammen mit der Kladde dieser Psychopathin.
Er würde ihm den Fall, der gar kein richtiger, sondern ein alter und nur nicht abgeschlossener
war, zurückgeben. Schließlich hatte man Schöller, den ach so tollen Schöller, dessen
Vater sich mal wieder eigens für ihn eingesetzt hatte, an seiner statt ins Präsidium
versetzt. Natürlich würde er einstweilen seinen alten Job wieder aufnehmen, doch
nur mit einem anständigen Fall, mit anständigen Kriminellen und anständigen Leichen,
aber nicht einer sonderbaren Psychonummer.
Martin Pohlmann betrat gegen 10.30
Uhr das Präsidium und hielt die besagte Akte und die persönlichen Aufzeichnungen
einer ihm völlig suspekten Emilie Braun in den Händen. Zügigen Schrittes erreichte
er das Büro seines Vorgesetzten Conrad Lorenz, dem er nicht nur seit über 20 Jahren
unterstellt, sondern mit dem er auch kollegial, beinahe freundschaftlich, verbunden
war. Kein hierarchisches Chef-Angestellten-Verhältnis, obwohl Lorenz durchaus ernste
Töne anschlagen konnte, wenn ihm der Polizeipräsident im Nacken saß und nach schnellen
Ergebnissen verlangte.
Pohlmann
drückte die Klinke herunter und fand Lorenz telefonierend vor, sodass er die Luft
anhalten musste. Schade, denn er hatte sich genau zurechtgelegt, wie er sich aus
der Geschichte herauslavieren würde.
Lorenz schien
ein ernstes Gespräch zu führen, er deutete Pohlmann hektisch mit dem rechten Zeigefinger,
auf dem Besucherstuhl Platz zu nehmen. Er legte auf und in seinen Augen konnte man
Betroffenheit lesen.
»Morgen,
Martin. Na? Ausgeschlafen?« Lorenz kam hinter seinem Schreibtisch hervor und begrüßte
Pohlmann mit einem Handschlag, einer Geste, die er schon Jahre nicht mehr erlebt
hatte. Kein Wort der Schelte wegen des Zuspätkommens, nicht einmal ein verärgerter
Blick, obwohl Martin Lorenz’ Anordnung vollständig ignoriert hatte. Entweder war
es eine Taktik, Martin bei Laune zu halten, oder ernstgemeinte Wertschätzung, den
›besten Bullen des Nordens‹ wieder in seinem Team zu wissen. Zumindest
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