Rassenwahn: Kriminalroman (German Edition)
sprechen. Das ist schon ein gewaltiger
Unterschied. Wenn es nicht sprechen kann, ist es schwachsinnig und lebensunwert.
Will es nicht sprechen, ist es bösartig, also genau genommen auch schwachsinnig.
Wobei mir noch kein Fall bekannt ist, in dem Kranitz es nicht geschafft hat, jemanden
zum Reden zu bringen.« Fürst lachte auf. »Irgendwas geht immer.«
Strocka
nickte. Eine Frage hatte er noch. »Überprüft ihr die Identität jedes Kindes ganz
genau? Es könnte ja mal …«, Strocka schien nach geeigneten Worten zu suchen, »… versehentlich in einer Fachabteilung gelandet sein oder vielleicht das Kind
eines hochrangigen Offiziers sein.«
»Nun, das
wäre schlecht für den Offizier, mein Lieber. Er wäre dann die längste Zeit Offizier
gewesen, oder was meinst du?«
Strocka
lachte eifrig, und doch klang es nicht echt. »Ja, sicher. Du hast recht.«
Fürst referierte
weiter. »Was hat ein Offizier der Schutzstaffel mit einem schwachsinnigen Kind gemein?
Ein Vertreter des Führers muss ein Vorbild in jeder Hinsicht sein, auch bezüglich
seiner Nachkommenschaft. Wir können mittlerweile von jedem Kind das Erbgut bestimmen
und Rückschlüsse auf die Eltern ziehen, auf deren Charaktereigenschaften, auf deren
Vorfahren und ob fremdländisches, jüdisches oder anderes minderwertiges Blut in
der Familie vorliegt.«
Strocka
setzte eine ernste Miene auf. »Nun, ich denke, so etwas kommt ja nie vor. Ist ja
auch absurd – ein schwachsinniges Kind von einem SS-Offizier.«
»Nun, das
wollen wir nicht hoffen. Und wenn doch, werden wir den Fall ganz im Sinne des Führers
schnell erledigen.«
Strocka
schluckte und führte sein bereits leeres Glas zum Mund. »Oh, schon leer«, stammelte
er. »Trinkt ihr noch einen Schoppen? Ja, sicher trinkt ihr noch eins. Ich besorg
uns noch Wein.«
Wegleiter
und Fürst sahen sich irritiert an.
Strocka
stand auf und ging zur Tür, den Wirt zu rufen. »Ich habe noch Durst. Bin gleich
wieder da.«
Wegleiter
sah Richard Fürst an. »Hat sich verändert, unser alter Freund, meinst du nicht?«
»Findest
du?« Fürst wurde nachdenklich. »Stellt viele Fragen.«
»Nach meiner
Erfahrung benimmt sich so ein Mann, der etwas zu verbergen hat.«
»Was sollte
Gerhard schon vor uns zu verbergen haben? War immer ein integrer Kerl. Wir sind
seine Freunde.«
Wegleiters
Augen glänzten. »Warum hat er uns kommen lassen? Ich hätte die Möglichkeiten, es
herauszufinden.«
Kapitel 10
Hamburg, 3. November 2010
Am nächsten Morgen, genauso trüb,
wie er von den Medien angekündigt worden war, schlug Martin Pohlmann gegen 9 Uhr
die Augen auf. Geräusche, die ihn fast zwei Jahre aus der Welt der Träume in die
Realität begleitet hatten, fehlten. Kein Meeresrauschen, kein Singsang seiner Freundin
aus der Küche, keine spielenden Kinder vor seinem Haus. Stattdessen ratterten Winterreifen
über das Kopfsteinpflaster, hupten nervöse Fahrer und kreischten auf dem Schulhof
zwei Häuser weiter pubertierende Teenies in der ersten Pause.
Bereits
jetzt war Martin Pohlmann eine Stunde zu spät dran. Er gähnte, streckte sich und
setzte sich auf. Verstört bemerkte er, dass Restfetzen sonderbarer Träume von Zwangsjacken,
Maulkörben und Hannibal Lecter ähnlichen Gestalten noch in seinem Kopf herumgeisterten
und sich nur widerwillig verflüchtigten. Martin blickte auf die Uhr und verlor sich
in Erinnerungen. In Ecuador war es gerade zwei Uhr morgens. Die Gäste des Hotels,
dessen Pacht er gekündigt hatte, saßen vermutlich noch immer an der Bar und tranken Piña Colada , sofern der Besitzer auf die Schnelle einen neuen Pächter gefunden
hatte. Möglicherweise betrieb er das Hotel auch wieder selbst, so wie vor Martins
Ankunft. Gegen sieben Uhr würde die Sonne über dem azurblauen Meer aufgehen und
ein neuer, herrlicher Tag würde beginnen.
Martin raufte
sich durch das zottelige Haar und rieb sich mit dem Handrücken die brennenden Augen.
Sein Körper würde eine Weile brauchen, bis er den neuen Rhythmus und die neuen Temperaturen
verinnerlicht hatte. Ein Blick aus dem Fenster ließ Martin frösteln, denn wenn man
Schneeregen sieht, braucht man kein Thermometer. Genervt sah er sich im Schlafzimmer
um. Auf dem Nachttisch lagen die braune Kladde, der seiner Meinung nach durch und
durch verrückten Emilie und eine Packung Tabak. Er griff danach und drehte sich
die erste Filterlose des Tages.
Nun war
er wieder allein, im Augenblick sogar einsam. Vor seiner Abreise, zwei Jahre zuvor,
war er froh gewesen,
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