Rassenwahn: Kriminalroman (German Edition)
und verschlossen
vor. Er entspannte sich und schloss auf. Er war allein und niemand hatte erneut
versucht, ihn ungefragt zu besuchen.
Der Hunger
trieb ihn in die Küche. Zunächst schnitt er gekochte Kartoffeln in Scheiben und
briet sie, schlug ein paar Eier auf und gab sie dazu. Etwas Salz und Kräuter aus
der Provence reichten fürs Erste. Mit leerem Magen zu denken, war genauso unmöglich
wie ohne Zigarette.
Er ging
ins Wohnzimmer, wo er am Vorabend alle Akten auf dem Teppich in einem Halbkreis
verteilt hatte. Er setzte sich und betrachtete die Arbeit, die vor ihm lag. Chronologie
hieß das Zauberwort. Er nahm einen letzten, tiefen Zug, drückte die Kippe aus und
rutschte vom Sofa herunter. Er setzte sich im Schneidersitz mitten in den Halbkreis
hinein. Zuerst griff er nach der Akte von Professor Keller. Nicht, weil dieser ihn
am meisten interessierte, sondern weil er links lag, zu Beginn der Reihe.
Professor Dr. Hans Keller, geb.
30. April 1940 in München. Sohn des Schreiners Walter Keller und der Näherin Else
Keller. Vollkommen unauffällige Leute. Zu Kriegszeiten passive Parteimitglieder
wie so viele andere auch, die ihre Arbeit behalten wollten. Keine Geschwister. Schulbildung
mit Abitur in München auf dem Wilhelmsgymnasium, dem ältesten Gymnasium Oberbayerns.
Zwei Jahre später als Student der Medizin an der Ludwig-Maximilians-Universität,
ebenfalls in München, eingeschrieben. Doktorarbeit: Die pathologische Veränderung
der menschlichen Seele während Gefangenschaft. Abschluss: Summa cum laude. Eine
Arbeit, für die er Heimkehrer aus russischer, französischer und englischer Kriegsgefangenschaft
befragt und die Ergebnisse miteinander verglichen hatte. Eine herausragende Dissertation,
die in allen Bibliotheken Deutschlands große Beachtung fand. Danach wurde er Facharzt
für Psychiatrie mit Anstellung als Oberarzt in der Nervenheilanstalt der Universität.
1968: Wechsel
nach Bonn auf den Venusberg und 1973 nach Hamburg, wo er sich zum Chefarzt und Klinikleiter
hocharbeitete.
Martin las die Vita des begabten
Mannes und empfand eine gewisse Bewunderung dafür, dass man sein ganzes Leben mit
psychisch kranken Menschen verbringen konnte, ohne selbst dabei bekloppt zu werden.
Jeden Tag die Geschichten der Leute anhören müssen, ihre Verrücktheiten ertragen
und bei all dem normal zu bleiben, an freien Nachmittagen auf den Golfplatz zu gehen
und so zu tun, als führe man ein normales Leben, was keines war. Sofern Keller überhaupt
Golf spielte.
Dann fand
er den Eintrag, der ihn wachrüttelte: Keller war anerkannter Fachmann auf dem Gebiet
der Erforschung der Lebenswege von Kindern, die in einem Lebensbornheim der Nazis
aufgewachsen waren. Manche von denen kamen 1936, gleich nach Eröffnung der ersten
Heime, dort zur Welt und lebten darin bis Kriegsende, viele von ihnen ohne Mutter,
und die meisten von ihnen ohne Vater. Aufgezogen mit den besten Nahrungsmitteln
des Landes, gewürzt mit guter deutscher NS-Ideologie unter der Schirmherrschaft
Heinrich Himmlers.
Keller hatte
Kommentare zu Studien namhafter Psychologen geschrieben. Darin ging es um das Verhalten
der Kinder, nachdem sie diese Heime verlassen hatten. Kellers Interesse galt vor
allem der Frage, wie sich diese Menschen in ihrem späteren Leben entwickelt hatten.
Wie sie in einer Gesellschaft der Nachkriegswelt zurechtkamen, wie sich ihre Persönlichkeit
veränderte, ob sich ihre soziale Kompetenz verbesserte, da sie ohne Eltern aufgewachsen
waren. Wie sich ihre Beziehungs- und Bindungsfähigkeit gestaltete bis hin zu ihrem
Sexualleben. Er suchte und forschte und errang einen gewissen Ruhm innerhalb seiner
Tätigkeit. Viele ehemalige Lebensbornkinder, die nun Erwachsene waren, suchten seinen
Rat und ließen sich therapieren. Die, die mit dem Wissen aufgewachsen waren, dass
ihre Existenz einzig dem Zweck diente, dem Führer Nachschub für die Front zu liefern.
Gezeugt von potenten deutschen Männern, SS-Mitgliedern, Mördern gar. In einem Heim
geboren, dessen Idee von dem zweitgrößten Unmenschen erdacht worden war, der von
dem Gedankengut des arischen Menschen besessen war: die reine Blutlinie des germanischen
Geschlechts.
Martin zündete
sich eine neue Zigarette an und blies den Rauch in die Wolke hinein, die reglos
und drohend über seinem Kopf verharrte. Er versuchte, sich in die Lage jener zu
versetzen, die dieses Schicksal erleiden mussten. Wie, um alles in der Welt, soll
damit ein vernünftig denkender Mensch klarkommen, dachte
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