Rassenwahn: Kriminalroman (German Edition)
Gemeinschaftsgefühl zu entziehen, als einsamer
Wolf durch den Dschungel zu streifen und das angepasste Dasein nur von Ferne zu
beobachten. Doch was war nun geworden? Nicht alle Träume entpuppten sich als lebenswert.
Manchmal haute einem die Vorsehung aus purer Lust nicht einen, nein, gleich zwei
oder drei Knüppel zwischen die Beine und man dachte: Hey, so war das nicht geträumt.
Und schon hatte die Realität, die man so nicht wollte, wieder ihren Finger gehoben
und sich in das Leben eingemischt, die Stille unterbrochen, dreist eine neue Tyrannei
erdacht, nur um einen zu quälen und zu beweisen, dass man nichts, aber rein gar
nichts in der Hand hatte, erst recht nicht, um selbstbestimmt zu leben und Träume
zu verwirklichen.
Martin schaute im Raum umher und
suchte irgendetwas, das ihn aufmunterte. Alle dachten, dass, wenn der Pohlmann nach
fast zwei Jahren aus Südamerika nach Hause käme, der so gut erholt und vollständig
genesen wäre wie kein Mensch zuvor. Die Wahrheit war: Nichts hatte sich geändert.
Die Bilder des Unfalls waren genauso präsent wie damals. Als würden sie hier in
diesen Räumen wie Geister leben, die nur darauf gewartet hatten, dass er heimkäme,
um sich ihm erneut aufs Gemüt zu legen. Könnte er sich wie Münchhausen am Schopf
aus dem Sumpf ziehen oder bräuchte er wieder pseudoprofessionelle Hilfe dabei? Wie
wäre es, sich das Leben zu nehmen? Würde das ein Ausweg sein? So wie Emilie Braun
es mehrfach versucht hatte? Daran gedacht hatte er damals. Er würde die Variante
vorziehen, ungebremst und unangeschnallt gegen einen Betonpfeiler auf der Autobahn
zu rasen. Im Auto umkommen, wie seine Sabine. Dabei konnte garantiert nichts schiefgehen,
das wusste er bereits.
Martin verspürte seit zwei Tagen
ein unangenehmes Kratzen im Hals, das er als Vorbote einer Erkältung seit geraumer
Zeit nicht mehr gespürt hatte. Er hasste es, krank zu sein. Bevor er nach Ecuador
abgereist war, war er im Schnitt vier Mal pro Jahr erkältet gewesen, unter Palmen
nicht ein einziges Mal.
Martin erhob
seine müden Knochen und ging zu dem Schrank, in dem er den Schnaps aufhob. Er wählte
den schottischen Malt Whiskey, den er am Tag zuvor gekauft hatte, und goss sich
davon ein. Es war ein 14 Jahre alter Bruichladdich und obwohl der Hals kratzte,
nahm er das intensive rauchige Aroma wahr. Ein feines Brennen breitete sich über
der Zunge aus, bevor der edle Stoff den entzündeten Schlund wie Säure zu verätzen
schien. Die Bakterien und Viren würden den guten Tropfen nicht zu schätzen wissen,
bevor sie daran verendeten, und Martin grinste in Anbetracht dieser albernen Genugtuung.
Gegen zehn
Uhr am Abend entfaltete der Whiskey seine wohltuende Wirkung. Martin legte eine
CD von Elbow ein. ›The Seldom Seen Kid‹. Ebenfalls ein Neuerwerb der letzten Tage,
dessen Cover er nun in der Hand hielt. Er drückte die Taste der Fernbedienung, um
den Laserkopf auf die Nummer zehn zu schicken. Es war ein ruhiger Song und handelte
von einer zerbrochenen Beziehung. Ein Lied, das selbst echte Kerle zum Heulen bringen
konnte, erst recht, wenn sie einen Whiskey in der Hand hielten, gesundheitlich angeschlagen
waren und feststellten, dass sie noch nicht über den Verlust eines geliebten Menschen
hinweggekommen waren.
Nach diesem
Lied schaltete er den CD-Player aus. Er verzog das Gesicht, während er den letzten
Schluck seiner bernsteinfarbenen Medizin austrank. Er nahm einen alten Schal aus
dem Schrank und band ihn sich um. Damit ging er ins Bad, zog sich um und betrachtete
sich im Spiegel. Fast hätte er laut gelacht, denn das Bild, das sich ihm dort bot,
konnte nur ein galgenhumorartiges Lachen hervorbringen. Martin Pohlmann war 42 Jahre
und vier Monate alt, wirkte in Zeiten der Gesundheit wie 50 und jetzt, in dieser
Sekunde, wie 60. Auf einen gemeinsamen Nenner gebracht, fand er, er sähe zum Fürchten
aus. Was ist nur aus mir geworden , fuhr es ihm durch den Sinn. Das Gesicht
aufgedunsen wie ein Klops, der preußisch anmutende Schnurrbart, den er beidseits
wie die Schwänzchen zweier Ferkel wachsen ließ, um, einer Marotte folgend, daran
zu zupfen. Die langen Haare, die graue Tendenzen erahnen ließen, und nun noch der
HSV-Fanschal seiner Exverlobten um den Hals gewickelt, passend zum viel zu engen
Pyjama, der bei seinem Einkauf zwei Tage zuvor auf der Liste gefehlt hatte. Es war
an der Zeit, etwas zu ändern, das war ihm klar, doch wie so oft reichte ein Vorsatz
nicht aus, um es Tat werden zu lassen. Er putzte
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