Rasterfrau: Knobels achter Fall (Krimi im Gmeiner-Verlag) (German Edition)
Nazi«, stellte Stephan fest. »Ich habe ihn mit der Sache konfrontiert. Er konnte alles gut erklären.«
»Das macht die Leitwölfe dieser Leute aus«, antwortete Marie ungerührt. »Ich kann dich nur warnen!«
»Ich habe bereits versprochen aufzupassen«, gab Stephan zurück. »Ich würde sagen, jeder geht jetzt seinen Aufgaben nach. Du triffst dich gleich mit Frau Wendel, und ich suche mit Trost die frühere Adresse von Michelle Crouchford auf.«
»Und dann?«
»Was und dann?«
»Was macht ihr, nachdem ihr den minimalen beruflichen Anlass der Reise erledigt habt?«
Stephan stöhnte gedehnt. »Wir werden uns in eine dunkle Ecke dieser Stadt zurückziehen und Trübsal blasen.«
»Ruf mich nachher bitte noch an, ja?«, bat Marie versöhnlich. »Vergiss nicht: Wir zwei hier lieben dich.«
Diese Worte hatte sie noch nie gesagt. Stephan legte mit einem Lächeln auf.
Gereon Trost erwies sich als ausgewiesener Kenner der Leipziger Innenstadt. Seit Jahren besuchte er die Jahresarbeitstagung der Verwaltungsjuristen, die stets Ende Januar eines jeden Jahres im Bundesverwaltungsgericht am Simsonplatz stattfand. Trost beschäftigte sich nur gelegentlich mit dieser Rechtsmaterie, aber er genoss die Gelegenheit, unter dem Mantel dieser Tagung alljährlich diese Stadt besuchen und genießen zu können. Das Bundesverwaltungsgericht, das seinen Sitz im früheren Reichsgericht hatte, galt als das wohl pompöseste Gerichtsgebäude Deutschlands, und Trost bedauerte, dass es wegen des Wochenendes nicht möglich sein würde, diesen Palast aus Marmor zu besichtigen.
»Wenn die Justiz Macht verkörpern will, dann ist es ihr mit diesem Prunkbau mit hohen Gewölben, mächtigen Säulen und dem kathedralartigen Plenarsaal gelungen«, meinte er und bewies einmal mehr eine von Stephan als wohltuend empfundene Distanz zu jedem Herrschaftsgebaren dieser Staatsgewalt. Trost gab sich in Leipzig so, wie er war: Neugierig und dem Leben zugewandt, eloquent und aufmerksam. Er verstand es, den Fußweg vom Hotel quer durch die Stadt, vorbei an der Nikolaikirche, dann über den Markt und mit einer kleinen Schleife über die Gassen rund um die Thomaskirche zu einem Streifzug durch die Geschichte und Kultur in Leipzig zu machen. Stephan nahm gern die Rolle des Zuhörers ein, dem Trost Bekanntes und Unbekanntes kurzweilig vermitteln konnte, und Stephan verstand, dass diesem Mann das Plädieren vor Gericht regelrecht Freude machen musste. Er kannte keinen Zweiten, der es wie Trost verstand, mit Worten und Gesten mit scheinbar spielerischer Leichtigkeit zu jonglieren. In der Tat: Trost konnte Menschen fangen, aber im Gegensatz zu Marie vermochte Stephan bei ihm keine verwerflichen Gesinnungen oder Absichten zu entdecken. Der Weg führte die beiden tatsächlich an dem majestätisch in der Nachmittagssonne thronenden Verwaltungsgericht vorbei, hinein in ein Viertel, in dem aufwendig renovierte Bürgerhäuser und Stadtvillen dem Betrachter ein luxuriöses und kultiviertes Leben vermittelten, das einer sozialen Schicht vorbehalten war, zu der Trost mühelos aufschließen konnte und die Stephan unerreichbar schien. Und hier, nur etwa einen knappen Kilometer vom Gerichtsgebäude entfernt, fand sich das Haus, das nach Angabe des Oberstaatsanwalts Kreimeyer die frühere Adresse von Michelle Crouchford gewesen war. Trost selbst war von der exklusiven Ausstrahlung dieser Villa überrascht, die – beschattet von hohen Buchen etwas von der Straße entfernt – mitten auf einem sehr großen Grundstück stand, das mit hohem gärtnerischem Sachverstand wie ein kleiner Park gestaltet und von einem fein ziselierten schmiedeeisernen Gitter umzäunt war. Unauffällig, aber trennscharf grenzte es diese noch reichere Welt von der übrigen ab. Trost zögerte, bevor er auf den einzigen sichtbaren Klingelknopf drückte, der in eine Säule des marmornen Portals eingelassen war, das die gepflasterte Zufahrt zum Haus überspannte und wie das gesamte Gebäude von unauffälligen Kameras erfasst wurde. Trost blickte unsicher in die eine und dann in die andere Kamera, durch die er offensichtlich beobachtet wurde, während er wiederholt klingelte. Erst als er sich zu Stephan umgewandt hatte und vorschlagen wollte, beim Nachbarhaus zu schellen, öffnete sich die doppelflügelige Eingangstür und ein mit schwarzer Hose und engem schwarzem T-Shirt bekleideter bulliger junger Mann kam ihnen entgegen und blieb vor den nach wie vor geschlossenen schmiedeeisernen Torflügeln stehen.
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