Rasterfrau: Knobels achter Fall (Krimi im Gmeiner-Verlag) (German Edition)
auch nicht im Fokus des Arztes. Er hat ihnen im Hinblick auf eine mögliche Straftat gar keine Beachtung geschenkt. Also ist die Zeugin im Krankenhaus überhaupt nicht auf eventuelle Rückstände eines Sprays untersucht worden. Deshalb ist es denkbar, dass sie trotz der Verletzung mit Wendel gelaufen sein kann.«
Trost schwieg. Er nippte an seinem Sektglas.
»Reine Hypothese«, urteilte er schließlich.
»Ist Ihnen beim Studium des Polizeiberichts aufgefallen, dass die Zeugin Crouchford offensichtlich zu einem Zeitpunkt ins Krankenhaus gebracht wurde, als die um 18.09 Uhr alarmierte Polizei noch gar nicht die Leiche Gossmanns entdeckt hatte? Der Leichenfund erfolgte erst gegen 18.20 Uhr, als die Beamten die Gegend rund um den Schauplatz des behaupteten Vergewaltigungsversuchs absuchten. Der Arzt, der nichts von dem Leichenfund und der möglichen Verbindung der Crouchford zu dem Tötungsdelikt ahnte, hatte auch aus diesem Grund keinerlei Veranlassung, den Knien der Crouchford gesteigerte Aufmerksamkeit zu schenken und sie auf weitere Spuren zu untersuchen. Er hatte nur die mögliche Vergewaltigung im Blick, für die die Schürfwunden ohne jede Bedeutung waren. Also hat er die Wunden nur gereinigt und – bis auf die Anfertigung eines Fotos – nichts dokumentiert. – Warum ist all dies nicht hinterfragt worden?«, fragte Stephan.
»Ja, warum nicht?«, wiederholte Trost und schüttelte den Kopf. »Weil …« Er kratzte sich am Kopf. »Weil alle diese Annahmen voraussetzen, dass Michelle Crouchford nur ein Köder für Maxim Wendel war. Wenn das aber der Fall war, kann Michelle Crouchford auch nicht das Opfer einer versuchten Vergewaltigung durch Maxim Wendel gewesen sein. Und an dieser Stelle bricht die Kette, Herr Knobel. Warum soll Wendel dann den Rentner Gossmann mit einer Flasche getötet haben, die er nachweislich angefasst hat? – Wenn Wendel selbst davon überzeugt gewesen wäre, der Crouchford nichts angetan zu haben, hätte er den Rentner nicht einmal weiter beachtet. Denken Sie daran, dass für Wendel viel auf dem Spiel stand. Ein Lehrer, der bei dem Versuch eines Sexualdelikts ertappt wird, ist seinen Beruf los. Zumal dann, wenn er eine Vorgeschichte wie Wendel hat. So haben es auch Gericht und Staatsanwalt gesehen. Aber ich will keine Gegenrede zu Ihrer Argumentation halten, Herr Knobel! Der Lösungsweg kann nur über diese Flasche führen – und über Michelle Crouchford. Deshalb sitzen wir in diesem Zug.«
Trost suchte sein Handy.
»Ich will meiner Tochter ein paar Worte schreiben«, erklärte er. Er konzentrierte sich kurze Zeit auf sein Handy, dann blickte er wieder auf.
»Ich wünsche Ihnen, Ihrer Marie und Ihrem Kind, dass Ihnen unser Schicksal erspart bleibt«, sagte er leise. »Delia hat den Tod ihrer Mutter nie verwunden – und ich nie den Tod meiner Frau, auch wenn ihr Unfall nun schon so viele Jahre zurückliegt.«
Stephan schwieg teilnahmslos. Trost hatte feuchte Augen bekommen. Einige Zeit später, als der Zug Hannover verlassen hatte, wechselten sie in ein Großraumabteil und saßen fortan still nebeneinander. Trost saß am Fenster und ließ die Landschaft an sich vorbeiziehen. Irgendwann schlief er ein. Stephan vertiefte sich in ein Magazin, das im Zug ausgelegt war.
Gereon Trost hatte nicht zu viel versprochen. Das von ihm ausgewählte Seaside-Park-Hotel lag zentral gegenüber dem Bahnhof, direkt am Beginn der Nikolaistraße und war somit idealer Ausgangspunkt für alle, die Leipzig erkunden wollten oder in der Stadt Geschäfte zu erledigen hatten. Im Inneren offenbarten die langen, mit dunkelblauem Teppichboden belegten Flure eine von außen unvermutete Größe des Hotels, dessen Zimmer die Gäste auf gehobenem Niveau beherbergten und eine für Stadthotels seltene Wohnlichkeit vermittelten. Durch das geschlossene Fenster drang dumpf die quirlige Lebendigkeit dieses sommerlichen Samstagnachmittags in Stephans Zimmer. Er hatte die wichtigsten Dinge aus seiner Reisetasche genommen und im Zimmer platziert, die auf dem Fernsehschirm leuchtende Begrüßung ›Herzlich willkommen, Herr Knobel‹ weggeschaltet und kurz mit Marie telefoniert.
»Die Fahrt war gut, ich ziehe jetzt mit Trost los.«
Marie lachte. »Trost-los, das ist ein Wortspiel, das ihm nicht gefallen wird.«
»Er ist nicht so, wie du denkst«, entgegnete Stephan. »Er weiß übrigens, was du über ihn denkst.«
»Und deswegen ist er nicht so, wie ich denke?«, fragte Marie. »Er ist raffiniert.«
»Jedenfalls kein
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