Rasterfrau: Knobels achter Fall (Krimi im Gmeiner-Verlag) (German Edition)
und pustete vorsichtig in die dampfende geschmelzte Leipziger Kartoffelsuppe, die soeben serviert worden war.
»Ich habe zulange alles nur aus meiner Perspektive gesehen«, räumte Trost ein. »Heute muss ich erkennen, dass ich, obwohl ich das Beste wollte, meiner Tochter im Ergebnis nur geschadet habe. Also geht es darum, einen Weg zu finden, wie ich ihr helfen kann. Vielleicht wird sie sich aus der Juristerei lösen, wenn ich nicht mehr bin. Ich will Delia nur abgesichert sehen. Insofern ist es vielleicht wirklich eine Nachlassregelung, da haben Sie recht. Ich hoffe, Sie verstehen mich.«
»Ich muss darüber nachdenken«, sagte Stephan.
»Das müssen Sie in der Tat. Aber es dürfte für Sie ein gutes Geschäft sein. Denken Sie an die Werte, die ich in Ihre Hände lege. Sie bekommen eine Kanzlei mit Substanz. Kein faules Ei, in dem die angehäuften Fälle nur Scheinakten sind. Allerdings sollten Sie sich in das Strafrecht einarbeiten. Sie bekommen von mir den Einstieg. Ich bin ja noch da. Also werde ich Ihr Lehrer sein. Jeder muss wissen, wann der eigene Zenit überschritten ist. Bei mir ist es soweit. Ich spüre es. Der Fall Wendel zeigt mir, dass ich vielleicht falsch gelegen habe. Ein solches Gefühl kannte ich bisher nie. Wenn man dieses Gefühl bekommt, wird es Zeit für einen selbst. Ich bin da ganz leidenschaftslos, Herr Knobel.«
»Also sitzen außer uns noch Marie und Ihre Tochter am Tisch«, schloss Stephan.
»Genau!«
»Wenn Sie Mephisto, Marie das Gretchen und ich Faust bin: Welche Rolle hat dann Ihre Tochter?«
Trost lächelte weise.
»Sehen Sie, das ist typisch. Delia hat noch gar keine Rolle. Um im Bild zu bleiben, wäre sie am besten die gute Tochter des Teufels. Aber das geht ja nicht. Delia braucht ihren Platz im Leben. Und ich habe begriffen, dass ich sie nicht dirigieren darf. Sie muss gesund werden können. Sie muss befreit sein. Der Platz in der Kanzlei soll nur eine Option sein. Ich wäre mehr als glücklich, wenn sie etwas anderes machen würde. – Lassen Sie uns anstoßen, Herr Knobel, und zwar mit allen vier Gläsern, und in der Hoffnung, dass wir demnächst leibhaftig alle vier zusammen das Glas erheben können. Ihre Marie, meine Delia, Sie und ich.«
Er wischte sich eine Träne aus dem Auge.
»Leibhaftig – wieder so ein teuflischer Begriff!« Er lachte. »Ich biete Ihnen jetzt das Du an, lieber Knobel«, sagte er unvermittelt. »Mein Name ist Gereon. Dieser Moment kennzeichnet eine Wende. Du wirst ihn in Erinnerung behalten.«
»Stephan«, antwortete Knobel überrascht und nachdenklich.
Dann stießen sie an.
Sie tranken viel an diesem Abend. Stephan leerte stets noch das für Marie bestimmte Glas, Gereon Trost das seiner Tochter. Kurz vor Mitternacht verließen sie Auerbachs Keller, nachdem Trost die gesamte Zeche bezahlt und ein großzügiges Trinkgeld gegeben hatte.
»In kleinen Dingen muss man großzügig sein«, belehrte er, schwankte durch das Gewölbe des großen Kellers und tastete sich die Stufen nach oben. Stephan folgte ihm, trotz seiner Trunkenheit in den Gedanken eigentümlich klar und distanziert. Es war, als hätten ihn dieser launige Abend und Trosts Vorstoß auf das private Terrain vorsichtiger werden lassen. Er wusste nicht, ob dessen Spiel, Marie und Delia gedanklich mit am Tisch sitzen zu lassen, nicht kalkuliert dem Zweck diente, den Alkoholkonsum zu steigern und Stephan in weinseliger Stimmung die Zustimmung abzuringen, für Delias Zukunft zu sorgen.
Ungeachtet seines unsicheren Gangs blieb Trost in Wort und Tat auf Stil und Form bedacht. Am oberen Ende der Treppe angekommen, wandte er sich zu Stephan um, verneigte sich und bekannte: »Es bleibt etwas nachzutragen«, sagte er langsam und schmunzelte. »So, wie du dein scheinbar gekonnt repetiertes Wissen über Goethes Aufenthalt in Leipzig schlicht dieser Vitrine entnommen hast«, wobei er mit einem Kopfnicken auf den Schaukasten von Auerbachs Keller wies, »so habe ich meinen geistreichen Spruch über dieses Lokal natürlich ebenso abgekupfert. Er steht nämlich rechts oberhalb der Speisekarte.«
Er lachte wie ein kleines Kind und hielt sich den Bauch.
»Das war vor rund fünf Stunden, und da meinten wir noch, uns etwas vormachen zu müssen.« Er hielt inne und atmete tief durch. Der Alkoholgenuss belastete sein Herz.
»Jetzt sind wir Freunde und können die Masken fallen lassen.« Er zog an seiner Nase, als würde er eine Folie von seinem Gesicht ziehen. »Der Mephisto ist jetzt zum guten
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