Rasterfrau: Knobels achter Fall (Krimi im Gmeiner-Verlag) (German Edition)
Fragen gestellt werden, Herr Knobel. Seien Sie froh, dass Ihre Marie so ist, wie sie ist. Sie ist ein kritischer Geist.«
»Also doch kein Gretchen«, warf Stephan ein.
»Aber ein Mensch voller Ideale«, korrigierte Trost. »Nur darum geht es. Belassen Sie Marie in der Gretchenrolle. Ich möchte nur ein paar Kategorien schaffen. Sie wissen, dass ich eigenen Idealen folge und in mancher Hinsicht ganz feste Vorstellungen habe. Ich bin mir sicher, dass ich früher Ihrer Marie charakterlich ganz ähnlich war. Viele Menschen fangen einmal ganz rein an. Aber mit der Zeit verändern sich Einstellungen und Ideale. Die gemachten Erfahrungen rücken den Menschen und seine eigenen Bilder zurecht. Das ist der Lauf der Dinge, und es ist nicht unwahrscheinlich, dass Ihre Marie – oder auch Sie, Herr Knobel – mit zunehmendem Alter einmal anders denken und vieles anders beurteilen werden. Sie erinnern sich, dass ich Sie auf einen Eintritt in meine Praxis angesprochen habe. Ich erwarte jetzt noch keine Antwort, doch gleichzeitig gehe ich schon einen Schritt weiter. Sie können meine Praxis ohne jeden finanziellen Ausgleich übernehmen, wenn ich ausscheide. Es ist nur eine Bedingung daran geknüpft.«
Trost machte eine bedeutungsvolle Pause.
»Nehmen Sie meine Tochter Delia mit ins Boot«, forderte er. »Sie ist mit dem frühen Tod ihrer Mutter nie zurechtgekommen. Abgesehen von der irrigen Annahme, ihr die Mutter ersetzen zu können, habe ich Delia nach dem Schulabschluss in das Jurastudium gedrängt. Viele Väter machen den Fehler, ihre Kinder in die eigenen Fußstapfen drängen zu wollen. Heute weiß ich, dass dies ein Fehler war, denn ich habe nicht darauf geschaut, ob dieses Studium oder die daraus folgenden Berufe überhaupt Delias Neigungen entsprechen. Delia ist ihrer Mutter sehr ähnlich. Sie ist sensibel, eher künstlerisch veranlagt, häufig träumend. Kurzum, sie ist ein Mensch, der mit dem, was unseren Beruf ausmacht, recht wenig anfangen kann. Delia steht kurz vor ihrem ersten Examen. Sie hat überlange studiert und zwei Repetitorien absolviert, aber es ist reine Illusion, ein besseres als ein ausreichendes Examen erwarten zu wollen. Juristerei ist nicht Delias Ding. Sie hat sich für dieses Studium allein mir zuliebe entschieden. Seit geraumer Zeit predige ich, sie solle das Studium aufgeben und lieber das machen, was ihr Freude bereitet, aber das tut sie nicht, weil sie nicht daran glaubt, dass ich das ernst meine. Sie denkt, dass ich ihr diesen Rat aus purer Enttäuschung über sie gebe.«
»Vielleicht sollten Sie nicht predigen«, meinte Stephan und dachte auch daran, dass sich Trost gern in Monologen erging.
»Ja, ich habe immer gepredigt«, bedauerte Trost, »und all das ist an meiner Tochter nicht spurlos vorbeigegangen. Sie leidet unter Magersucht, und die Psychologin ist sich sicher, dass der maßgebliche Grund dafür in dem Leistungsdruck liegt, den sich Delia selbst auferlegt. Sie befindet sich in einem Teufelskreis. Sie will gegen sich selbst anarbeiten, und je mehr sie das versucht, desto mehr stößt sie an ihre Grenzen. Sie wissen selbst, Herr Knobel, dass heutzutage das bloße Bestehen der juristischen Examina gar nichts bedeutet. Es gibt kaum einen Beruf, bei dem die Relation zwischen Dauer und Schwere der Ausbildung zum Ertrag so fragwürdig ist wie in unserer Zunft. Aber all das Jammern hilft jetzt nicht. Wenn also Delia weiterhin Juristin sein will, obwohl sie sich innerlich dagegen sperrt, wird sie keine erfolgversprechende Karriere machen können. Mehr noch: Sie wird überhaupt keine Stelle finden.«
Trost hob abwehrend die Hand, bevor Stephan den erwarteten Einwand anbringen konnte.
»Sie sollen nicht durch meine Tochter belastet sein«, erklärte er weiter. »Delia soll nur etwas arbeiten können, wenn sie es will. Sie soll eine Kanzleiadresse haben, unter der sie sich versuchen kann. Finanziell brauchen Sie sich nicht um Delia zu kümmern. Ich werde ein Konto einrichten und füllen, von dem sie bezahlt werden kann. Sie werden meine Tochter nicht beanspruchen oder mit Fällen betrauen müssen, denen sie nicht gewachsen ist. Sie soll nur eine Chance haben, sich in diesem Beruf zu versuchen, wenn sie ihn gegen meinen heutigen Rat ausüben will. Ich bin mir sicher, dass sie es nach wie vor nur mir zuliebe tut. Aber das ist ein großer Fehler. Ich bin kein Vorbild. – Sehen Sie, jetzt ich bin doch der Mephisto!«
»Hört sich eher so an, als regelten Sie Ihren Nachlass«, sagte Stephan
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