Rasterfrau: Knobels achter Fall (Krimi im Gmeiner-Verlag) (German Edition)
ich die Kleine im Toilettenraum wickeln kann. Seien Sie doch bitte so freundlich und setzen Sie sich auf meinen Platz, Frau Wendel! Bitte lassen Sie das Kind nicht aus den Augen!«
»Ihre Tochter, natürlich!«
Frau Wendel sprang förmlich auf. Jetzt, wo sie etwas Alltägliches, ja Banales, tun sollte, wirkte sie wieder so hastig wie zu Beginn des Gesprächs. Marie vergewisserte sich, dass Frau Wendel Elisas Kinderwagen festhielt. Dann eilte sie in das Lokal.
Der Mann vom Nebentisch, der mit dem Rücken zu Marie gesessen hatte, stand auf, drehte sich um, trat näher und beugte sich über den Kinderwagen.
»Ein niedliches Kind haben Sie«, sagte er verzückt und berührte mit der rechten Hand Elisas Wange.
»Es ist nicht mein Kind«, sagte Frau Wendel irritiert und zog den Wagen näher zu sich heran.
»Aber es sieht Ihnen ähnlich«, meinte der Mann. »Ein schlankes Gesichtchen, so wie Sie«, sagte er und streichelte über Elisas Stirn. »Dunkle Haare, so wie Sie.«
»Bitte nicht!«, bat Frau Wendel. »Ich glaube nicht, dass das der Mutter recht wäre.«
»Jeder Mutter ist es recht, wenn das eigene Kind gemocht wird«, sagte der Mann und rückte seine große Sonnenbrille zurecht. »Schauen Sie nur in dieses sanfte Gesicht. Babys sind wie kleine Engel. Wenn wir Menschen nur so unschuldig blieben, wie die Babys sind.«
Er beugte sich tiefer in den Kinderwagen.
»Nicht!«, rief Frau Wendel. Sie blickte sich hektisch nach Marie um, die gerade aus dem Lokal kam und zu laufen begann.
»Was machen Sie denn da?«, schrie sie und zog den Mann vom Kinderwagen weg. »Ich will nicht, dass Sie mein Kind anfassen.«
Der Mann wich zurück und hob lächelnd seine Hände. Das Sonnenlicht spiegelte sich auf den Gläsern seiner Brille. »Das Glück ist flüchtig. Man sollte es genießen, so lange es einem treu bleibt.«
»Was soll das? Ich verstehe Sie nicht«, erwiderte Marie schroff und beugte sich über ihr Kind.
»Mea culpa«, antwortete der Mann und verneigte sich etwas. »Entschuldigen Sie! Es war eine unglückliche Begegnung.«
Er wandte sich um und entfernte sich eilig. Marie sah ihm nach, wie er über den Alten Markt davonstrebte.
»Er war auf einmal da, gerade, als Sie gegangen waren«, stammelte Frau Wendel. »Wenn ich mich nicht täusche, saß er die ganze Zeit am Nebentisch hinter Ihnen. Ich habe ihn allerdings auch nur von hinten gesehen.«
»Der Typ ist unheimlich. Was wollte er von Elisa, Frau Wendel?«
»Nichts. Er hat nur das Baby bewundert. Es war sonst nichts.«
»Warum kommt er ausgerechnet, als ich fortgegangen war?«, fragte Marie gereizt.
»Ich weiß es nicht!« Frau Wendel stiegen Tränen in die Augen. »Ich habe es falsch gemacht. Ich hätte ihn nicht an den Wagen lassen sollen.«
»Ist schon gut«, beruhigte Marie. Sie blickte über den Platz. Der Mann war verschwunden.
16
»Ein Tisch für vier Personen bitte«, antwortete Trost auf Nachfrage des Kellners.
»Erwarten wir noch jemanden?«, staunte Stephan.
Trost schwieg vielsagend und folgte dem Kellner. Sie wurden an einen Ecktisch gebeten und nahmen Platz. Trost ließ den Blick durch das Gewölbe schweifen.
»Wir sind in Auerbachs Keller, lieber Kollege Knobel. Sie wissen, was man über Jahrhunderte zu sagen pflegte?«
»Nein. Was sagte man?«
»Wer nach Leipzig zur Messe gereist, ohne auf Auerbachs Hof zu gehen, der schweige still, denn das beweist: Er hat Leipzig nicht gesehen.« Trost schmunzelte. »Aber Ihnen sagt dieses Lokal schon etwas, Herr Knobel?«
»Seit dem Deutschunterricht in der Schule«, nickte Stephan. »1765 hat Goethe sein Studium in Leipzig begonnen. Seine Besuche in Auerbachs Keller und besonders die beiden alten Faust-Bilder inspirierten ihn zu seiner Faustdichtung.«
»Donnerwetter!«, staunte Trost und verzog anerkennend seine Mundwinkel.
»Allgemeinwissen«, kommentierte Stephan gelassen und verschwieg, dass er dies gerade in einer Außenvitrine des Restaurants gelesen hatte, als Trost vor dem Lokal noch ein kurzes Handytelefonat mit seiner Tochter Delia geführt hatte.
Trost orderte die Speisen- und Getränkekarte und bedeutete Stephan, sich eingeladen zu fühlen.
»Mögen Sie Faust?«, fragte Trost, ohne von der Karte aufzublicken.
»Ich mochte Faust zu Schulzeiten sehr, aber dann habe ich den Kontakt dazu verloren. Wahrscheinlich geht es vielen so.«
»Eine geschmelzte Leipziger Kartoffelsuppe vorweg – und dann eine sächsische Bauernpfanne«, entschied Trost. »Was nehmen Sie? Ich kann die
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