Ratgeber & Regenten 01 - Die Bluthündin
einen Sinn erkennen. Ein Ruf war von der anderen Seite der Mauer zu hören, eine Tür wurde aufgestoßen. Schritte hallten durch das Gebäude und näherten sich ihnen rasch.
Tzigone wandte sich um, wollte zurück zum wahnsinnigen Hof. Statt etwas zu sagen und so entdeckt zu werden, zog sie am Rock ihrer Mutter, um ihr ihre Absicht klarzumachen. Doch diese löste die kleinen Finger.
»Geh«, sagte sie. »Meine Magie ist fast verbraucht. Das Amulett ist zerbrochen. Sie werden mich bald finden, ob ich fortlaufe oder hierbleibe.«
»Ich lasse dich nicht allein«, sagte Tzigone.
»Du mußt. Sie suchen dich.«
Sie nickte. Irgendwie hatte sie das schon immer gewußt. Aber etwas zu wissen war nicht das gleiche wie etwas zu tun, und sie brachte es nicht übers Herz fortzugehen.
Die Schritte kamen näher und schienen die Erde zum Beben zu bringen. Tzigone schaukelte vor und zurück, bis ins Mark erschüttert von dem, was sich da so furchterregend näherte. Aber sie würde nicht fliehen. Sie mußte es sehen.
»Tzigone! Komm zurück!«
Es war nicht die Stimme ihrer Mutter, aber sie war dennoch von Angst und Sorge erfüllt. Instinktiv wandte sie sich ihr zu. Mit Mühe erfaßte ihr Blick Matteos Gesicht.
Er kniete vor Tzigone, hatte sie an den Schultern gepackt und schüttelte sie heftig. Sein Gesicht war angespannt und blaß.
»Ich bin zurück«, sagte sie schwach. »Du kannst aufhören, mein Rückgrat umzuformen.«
Matteo ließ los, wich aber nicht zurück. »Was sahst du?«
Tzigone wich seinem Blick aus. »Habe ich etwas gesagt?«
»Nichts, was ich hätte verstehen können. Hier und da ein Wort. Ich habe irgend etwas von Jasmin verstanden.«
»Das Zeug habe ich schon immer gehaßt. Jetzt weiß ich, warum. Ich gehe zurück«, sagte sie mit festerer Stimme.
Matteo preßte die Lippen aufeinander. »Tzigone, das wäre äußerst dumm. Es gibt viele Schichten der Erinnerung, und was du hier tust geht weit über das hinaus, was die meisten Jordaini in ihren kühnsten Träumen zu erreichen hoffen. Ich habe schon zweimal jemanden in Erinnerungstrance fallen sehen. Es wirkte auf mich anstrengender als ein Wettlauf oder ein Nachmittag voller Waffenübungen. Du solltest dich ausruhen.«
»Ich habe meine Mutter gesehen!« sagte sie. »Ich habe mich an die Nacht erinnert, in der wir getrennt wurden. Ich entkam, sie aber nicht. Du hast mich zurückgeholt, ehe ich sehen konnte, wer sie wegbrachte. Ich muß es wissen! Nur so werde ich sie je finden.«
Matteo zögerte, während seine Augen ihr Gesicht absuchten. »Ist das so wichtig?«
»Ich kann nicht von dir erwarten, daß du es verstehst. Außer den Jordaini hattest du nie eine Familie. Aber ich muß sie finden!«
Er nickte langsam, dann stand er auf und ging zu einem polierten Tisch. Er zog den Korken aus einer vollen Karaffe Wein und schenkte ein wenig davon in einen Kelch. »Beruhige dich. Dann versuchen wir es noch einmal.«
Tzigone trank und setzte den Kelch ab. Wieder beruhigte sie ihren Geist und versank in die dunklen verborgenen Tiefen.
Plötzlich tauchte ein Bild vor ihr auf, das lebendiger wirkte als ein Traum.
Sie war in einem Wald, üppig und dicht wie ein Dschungel. Noch nie hatte sie solche Bäume gesehen. Sie erschienen ihr wachsam und irgendwie weise. Neben ihnen wirkten die Bilboabäume Halruaas wie leblose Möbel. Die Bäume waren gewaltig, groß genug, um in ihren Ästen einem kleinen Vogel- und Insektenkönigreich Platz zu bieten. Insekten und fliegende Geschöpfe, die eindeutig keine Insekten waren, schwirrten leise summend umher, winzige Kröten in kräftigen Rot-, Blau-, Grün-und Schwarztönen sonnten sich auf den Ästen, ohne die Vögel zu fürchten, die über ihnen hin- und herflogen und zwitscherten.
Plötzlich verstummte der Wald. Die Stille kam so schnell und war so absolut, daß es sie wie ein Pfeil ins Herz traf. Ein durchdringender Schrei hätte sie weniger betäubt. Tzigone machte ein zweites Mal einen Satz, als eine unsichtbare Hand in ihren Geist eindrang und sich um die Stränge legte, die sie mit dem Leben, der Magie und diesem Ort verbanden.
Nein, nicht ihren Geist. Tzigone war mit einem Mal davon überzeugt, daß sie Erinnerungen erlebte, die nicht ihr gehörten, sondern einem anderen. Der Gefährte an ihrer Seite war ganz entschieden niemand, der ihr schon einmal begegnet war. Es war ein vierbeiniger Vogel mit einem geschwungenen, geteilten Schnabel und mit Augen, die von einer strahlenden Intelligenz erfüllt waren,
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