Ratgeber & Regenten 01 - Die Bluthündin
Der Tag – diese Erkenntnis kam ihm mit einem Mal –, an dem sein unerschütterlicher Glaube an den Jordaini-Orden einen Riß bekommen hatte, der nie wieder verheilen konnte.
Eine seltsame Einsamkeit ergriff von ihm Besitz, während er Tzigone folgte. Er war ein Jordain, er hatte geschworen, der Wahrheit, Halruaa und den Magiern des Landes zu dienen. Das war sein ganzer Lebensinhalt gewesen, das war alles, was er wußte und konnte. Er konnte sich nichts vorstellen, was diesen Platz einnehmen konnte.
Doch zunächst war Überleben vorrangig. Sie rannten zur Spitze des Turms, zwängten sich dort durch ein Fenster und kletterten an den Ranken hinunter, die es geschafft hatten, an der glatten Marmormauer Halt zu finden. Von dort ging es weiter zu den Verbindungsmauern und dann zu den Ästen des Baums, der ihnen am nächsten war. Erst als sie sich in der sicheren Umgebung von Tzigones Bilboabaum befanden, sprachen sie wieder.
Matteo beobachtete, wie Tzigone aus einem verborgenen Versteck Rationen mit Trockennahrung und eine Wasserflasche hervorholte. »Kennst du im ganzen Land jeden Baum dieser Art?«
»Ein oder zwei in jeder Stadt und jedem größeren Dorf«, sagte sie. »Ich komme viel herum. Aber ich glaube, ich muß dir den Grund dafür nicht erklären.«
»Um ehrlich zu sein, eine Erklärung wäre angebracht«, sagte Matteo. »Was suchst du? Was ist es wert, diese Risiken einzugehen?«
Tzigone gab ihm eine ehrliche, einfache Antwort. »Ich suche meine Herkunft.«
Matteo hob erstaunt die Brauen. »Das ist so wichtig?«
»Ich kann verstehen, daß du dir das nicht vorstellen kannst. Du hattest nie eine Familie.«
»Alle Jordaini kommen kurz nach der Geburt in die Schule«, bestätigte er. »Das ist die Tradition.«
»Hast du dich nie gefragt, wer deine Familie ist?«
Er dachte gründlich über die Frage nach. »Von Zeit zu Zeit habe ich mich gefragt, wer mich wohl zur Welt gebracht hat. Aber die Jordaini sind meine Brüder, mir mangelt es an nichts. Bei dir verhält es sich anders, nehme ich an?«
»Ja«, erwiderte sie. »Ich hatte eine Mutter, und ich werde nicht ruhen, bis ich sie gefunden habe. Hast du dich wirklich noch nie gefragt, was mit deiner Mutter ist?«
»Sie war eine erwachsene Frau, als sie mich gebar. Soweit ich weiß, werden Jordaini-Geburten üblicherweise von den Ehestiftern vorhergesagt. Darum wußte sie von Anfang an, daß sie ein Kind austragen würde, nur um es dann wegzugeben. Das geschieht zum Wohl des Landes. Die Eltern werden dafür entschädigt, da sie keine Kinder haben, die für sie im Alter sorgen können, und für ihr Opfer werden sie außerdem besonders geehrt.«
Tzigone sah ihn lange an. »Komm«, sagte sie abrupt und ließ sich vom Baum herab.
Keine zwei Stunden später standen sie im Eingang einer Hütte mit nur einem Raum, einer von vielen dieser Art, die alle gleich aussahen und um einen einfachen Garten zusammenstanden, der von einer hohen, dicken Mauer umgeben war.
»Was ist das für ein Ort?« fragte Matteo im Flüsterton. Der Ort hatte etwas Angenehmes, das aber auch den Geist hemmte.
»Tritt ein«, sagte Tzigone.
Matteo blieb an der Tür stehen und sprach die traditionelle Formel, die von jedem Halruaaner verlangt wurde, und schwor damit, in diesem Haus keine Magie anzuwenden.
»Mach dich nicht über mich lustig«, erwiderte eine leise, gequälte Stimme.
Er trat ein und spähte in die Schatten, die sich um den erloschenen Kamin ballten. Eine Frau saß zusammengekauert auf einem Stuhl, die Beine angezogen wie ein weinendes Kind.
»Das war nicht meine Absicht, Mutter«, sagte er sanft und verwendete die Anrede, die die angemessene Höflichkeitsform für unbekannte Frauen in ihrem Alter war. »Meine Worte waren eine Begrüßung wie jede andere auch. Sie verkünden außerdem die Wahrheit, denn ich bin Jordain.«
Das Wort traf sie wie ein Pfeil. Sie sah ihn mit großen Augen an. »Jordain!«
Matteo verstand die Aufregung nicht, aber er wollte sie nicht steigern. »Verzeiht, Mutter«, sagte er und verbeugte sich. »Wir gehen.«
Das verrückte Leuchten verschwand aus ihren Augen und ließ ihr Gesicht matt aussehen. »Geh oder bleib, es ist egal.«
Tzigone schubste ihn von hinten, damit er weiter ins Zimmer ging. Während Matteo dastand und sich unwohl und hilflos fühlte, machte sie sich daran, die Fensterläden zu öffnen, um die Sonne hereinzulassen, schüttelte die Kissen auf, fachte das Feuer an und stellte einen Kessel mit Wasser und einer Handvoll
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