Ratgeber & Regenten 02 - Das Wehr
Sonnenschein, der durch das Laubdach des Waldes fiel, während die absolute Stille der wuchernden Kakophonie eines Dschungels wich. Vögel schnatterten und riefen in den Ästen hoch über ihnen. Frösche quakten in nahen Teichen, Insekten surrten und summten, und aus weiter Ferne kündete das Fauchen einer Dschungelkatze von einer erfolglosen Jagd. Unter dieser vielschichtigen Geräuschkulisse lag das sanfte, pulsierende Lied des Waldes, das seine Ohren noch nie zuvor wahrgenommen hatten.
Andris vermutete, daß dies der Wald war, wie ein Elf ihn hören mußte – die Stimme des Lebens, der Magie! Als sein Gehör sich wieder auf eine normale Wahrnehmung einstellte, verstummte das Lied. Er kam sich vor wie ein Blinder, der einen Moment atemberaubender Sehkraft geschenkt bekommen hatte, um dann jedoch wieder in völlige Dunkelheit abtauchen zu müssen.
»Du wirkst enttäuscht«, sagte eine amüsierte Kiva. »Hat die magische Reise deine Erwartungen nicht erfüllt?«
Andris wollte es ihr nicht erklären. »Ich bin nicht unglücklich darüber, den Nath und das Lager der Crinti zu verlassen. Aber warum kehren wir nach Mhair zurück?«
Kiva legte die Hände trichterförmig an den Mund und stieß einen hellen, durchdringenden Ruf aus. Er war süßlich und musikalisch genug, daß man ihn für den Gesang eines Vogels hätte halten können, und er war nicht ungewöhnlich laut. Doch Andris hatte das Gefühl, daß sich der Ruf auf leisen Schwingen durch den Wald fortsetzte. Eine Nachricht war ausgeschickt worden.
Sie ließen sich auf den unteren Ästen eines blühenden Baums nieder und beobachteten aufmerksam den Wald um sich herum. Plötzlich sprang Kiva von ihrem Ast und hob eine Hand, um die Elfen zu grüßen, die aus den tiefgrünen Schatten hervortraten. Andris schüttelte erstaunt den Kopf. Er hatte weder sehen noch hören können, wie sie sich näherten.
Er kletterte nach unten und begab sich an Kivas Seite. Die Elfen waren ihm bekannt, sie alle hatten mit ihnen am Spiegel der Herrin gekämpft. Doch diesmal hieß sie keiner ihrer Blicke willkommen. Angeführt wurde die Gruppe von Nadage, jenem Schlachtführer, aus dem Kiva einen Plünderer gemacht hatte.
»Du gehörst nicht länger zu uns, Kiva«, sagte der Elf düster. »Dieser Wald ist dir verschlossen. Wandle unter anderen Bäumen oder stirb.«
Kiva beugte den Kopf, um anzudeuten, daß sie dieses Ur teil akzeptierte. »Wenn ihr euch mir anschließen wollt, so werde ich unter den Bäumen von Akhlaurs Sumpf wandeln.«
Völliger Unglaube huschte über das kupferfarbene Gesicht des Elfen. »Hast du es dir zu Aufgabe gemacht, alles zu zerstören, was von den Mhair-Elfen noch geblieben ist?«
»Der Laraken existiert nicht mehr. Elfen können sich ungefährdet durch den Sumpf bewegen.«
»Wir sollen zwischen den kristallenen Geistern unserer Freunde wandeln, unserer Familien? Du verlangst zuviel.«
»Zuviel?« Sie sprach das Wort leise, aber mit einer besonderen Betonung aus. »Welcher Preis könnte wohl zu hoch sein, um die Vernichtung des Magiers Akhlaur zu erleben?«
»Er war ein Mensch. Wieso bist du so sicher, daß er noch lebt?«
Kiva zuckte mit den Schultern. »Lebendig, tot. Es macht nichts aus. Akhlaur war ein Nekromant, ein Magier, der sich mit den Mysterien von Leben und Tod beschäftigt. Ich weiß, daß er einen Zauber vorbereitet, der ihn in einen Leichnam verwandeln wird. Ich habe ihn dabei beobachtet. Wenn sein Körper stirbt, könnte das Böse in ihm durchaus weiterleben. Wenn das geschieht, wo kann sich ein Elf dann noch sicher fühlen?«
Unentschlossenheit zeigte sich auf dem Gesicht des Anführers. »Du hast uns schon einmal in die Irre geleitet. Wie könnten wir dir diesmal vertrauen?«
»Das ist genau der Punkt«, sagte Kiva. »Würdest du glauben, daß Akhlaur tot ist, wenn diese Worte über meine Lippen kommen? Oder würde deine Traumruhe erst dann wieder Erholung bringen, wenn du mit deinen eigenen Händen seine Knochen über das Land verstreut hast? Geh mit mir in den Sumpf. Ich werde ihn besiegen und zu dir bringen.«
Cibrone, die Schamanin, warf die zierlichen Hände in die Luft. »Wie könntest du einen Magier besiegen, der hunderte von Elfen vernichtet hat?«
Kiva holte ein kleines Buch aus ihrer Tasche. Andris erkannte es als das Zauberbuch, das er aus dem Jordaini-Kolleg mitgenommen hatte. Ihre Miene war ernst, als sie es hochhielt. »Hier drinnen sind Akhlaurs Geheimnisse enthalten. Deine Berührung spürt Magie, Cibrone.
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