Rattenkoenig
Und alle schwiegen.
Er konnte die Straßengabelung und dahinter das Latrinengebiet sehen. Er sah die Baracken, die wie Geschwüre wirkten, und in seine Nasenflügel stieg der Gestank von Schweiß und Schimmel und Urin. Überall waren lebendige Leichname – Leichname in Lumpen, Leichname in Lendentüchern, Leichname in Sarongs, knochig und fleischlos.
»Fühlen Sie sich nicht wohl?« fragte der King besorgt. »Sie sehen etwas blaß aus.«
»Ich fühle mich wohl. Wer sind die armen Kerle?«
»Nur ein paar von den Leuten hier«, erklärte der King. »Offiziere.«
»Was?«
»Klar. Was ist an ihnen nicht in Ordnung?«
»Sie wollen mir weismachen, daß das dort drüben Offiziere sind?«
»Genau. All diese Baracken hier sind Offiziersbaracken. In den Bungalowreihen da drüben wohnen die hohen Tiere, Majore und Obersten. Er sind etwa tausend Aussies und Lim – Engländer«, verbesserte er sich schnell, »in den Baracken südlich vom Gefängnis. Im Gefängnis selbst sind etwa sieben- oder achttausend Engländer und Aussies untergebracht. Alles Soldaten.«
»Sind alle so?«
»Wie bitte?«
»Sehen alle so aus? Sind alle so gekleidet?«
»Natürlich.« Der King lachte. »Vermutlich sehen sie wie eine Bande von Landstreichern aus. Bis jetzt hat mir das noch nie etwas ausgemacht.« Dann bemerkte er, daß Forsyth ihn kritisch betrachtete.
»Was ist?« fragte er, und sein Lächeln verblaßte.
Hinter ihm und ringsum sahen Männer zu, unter denen auch Peter Marlowe war. Aber sie blieben alle außer Reichweite. Sie fragten sich alle verwundert, ob ihre Augen wirklich einen Mann sahen, der wie ein Mann aussah, einen Revolver an der Hüfte trug und mit dem King redete.
»Warum sehen Sie so anders aus als die andern?« fragte Forsyth.
»Wie bitte?«
»Warum sind Sie ordentlich gekleidet – und alle andern stecken in Lumpen?«
Des King Lächeln kehrte zurück. »Ich habe mich um meine Kleidung gekümmert. Wahrscheinlich haben sie es nicht getan.«
»Sie sehen ziemlich kräftig aus.«
»Nicht so kräftig, wie ich es gern sein möchte, aber ich glaube, ich bin ganz gut in Form. Soll ich Ihnen das Lager zeigen? Ich denke, Sie können vielleicht Hilfe brauchen. Ich könnte ein paar Leute zusammentrommeln. Im Lager gibt es keine nennenswerten Lebensmittelvorräte. Aber oben an der Garage steht ein Lastwagen. Wir könnten nach Singapur hineinfahren und organisieren …«
»Wie kommt es, daß Sie hier offenbar einmalig sind?« unterbrach Forsyth, und seine Worte klangen wie Schüsse.
»Wie?«
Forsyth zeigte auf das Lager. »Ich sehe vielleicht zwei- oder dreihundert Männer, aber Sie sind der einzige, der ordentlich gekleidet ist. Ich sehe keinen, der nicht dünn wie ein Bambusrohr ist, aber Sie«, dabei drehte er sich um und sah den King an, und seine Augen blickten hart, »Sie sind ›gut in Form‹.«
»Ich bin genau wie alle andern auch. Nur bin ich auf Draht gewesen. Und habe Glück gehabt.«
»So etwas wie Glück gibt es nicht in einem Höllenloch wie diesem hier!«
»Natürlich gibt es das«, erwiderte der King. »Und es ist nichts dabei, wenn man sich um seine Kleider kümmert, es ist nichts dabei, wenn man sich so gut wie nur möglich in Form hält. Man muß sich immer um sich kümmern. Das schadet doch nichts.«
»Das schadet wirklich nichts«, antwortete Forsyth, »solange es nicht auf Kosten anderer geht!« Dann bellte er: »Wo ist die Unterkunft des Lagerkommandanten?«
»Dort drüben.« Der King zeigte ihm die Richtung. »Die erste Bungalowreihe. Ich weiß nicht, was in Sie gefahren ist. Ich hatte gedacht, ich könnte Ihnen helfen. Ich hatte gedacht, Sie könnten jemanden brauchen, der Sie über alles unterrichtet.«
»Ihre Hilfe brauche ich nicht, Korporal. Wie heißen Sie?«
Dem King tat es leid, daß er sich die Zeit genommen und zu helfen versucht hatte. Hund, dachte er wütend, das kommt davon, wenn man helfen will. »King, Sir.«
»Sie können wegtreten, Korporal. Ich werde Sie nicht vergessen. Und ich werde bestimmt dafür sorgen, daß ich bei allernächster Gelegenheit mit Hauptmann Brough sprechen kann.«
»Verdammt, was soll das bedeuten?«
»Es bedeutet, daß ich Sie höchst verdächtig finde«, knurrte Forsyth. »Ich möchte wissen, warum Sie in Form sind und andere nicht. Um an einem Ort wie diesem hier in Form bleiben zu können, muß man Geld haben, und es gibt hier bestimmt sehr wenige Möglichkeiten, zu Geld zu kommen. Sehr wenige Möglichkeiten. Verräterdienste sind eine
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