Rattentanz
letzten Moment sprang er zurück, um Mehmets Angriff auszuweichen.
Mehmet war zornig, er war wild und es war ihm in diesem Augen blick vollkommen egal, ob er, um dieses Grab verlassen zu können, die Hilfe eines Hermann Fuchs’ benötigte. Er kochte innerlich, taxierte seinen Gegner mit hochrotem Kopf und in ihm war nur noch Zorn – heißer, kochender, unbändiger Zorn, der nach einem Ausgang suchte. Ein mit heißem Wasser gefüllter, fest verschlossener Kessel über wild loderndem Feuer, kurz vor der Explosion.
»Gib das Wasser her, Mann!«, presste er heraus. Er lehnte sich über den Tisch und stieß mit dem Skalpell nach Fuchs. Der stand mit dem Rücken am Regal. Er beobachtete den Jungen, der, unfähig, seine Wut zu kontrollieren, planlos um sich schlug. Fuchs hielt in der Rechten die Kochsalzlösung, die linke Hand berührte etwas Kaltes – die Metallkiste mit den endoskopischen Instrumenten, die Kiste mit den Trokaren. Er griff hinein, ohne Mehmet aus den Augen zu lassen. Der war inzwischen auf den Tisch geklettert und stand nun, mit gespreizten Beinen und gebückt wie ein wütendes Raubtier, über Fuchs. Bereit zum Sprung, bereit zu Töten.
Mehmet sprang, ohne nachzudenken.
44
12:48 Uhr, Krankenhaus Donaueschingen, Aufzug 2
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Thomas Bachmann hatte getrunken, langsam und Schluck für Schluck. Nummer zwei hatte darauf bestanden, dass er sich dabei die Nase zuhielt.
»Warum die Nase zuhalten? Es ist doch nur Melissentee.«
Jetzt saß er an die Aufzugstür und dachte nach. Er dachte an seine Großmutter und streichelte dabei den Knopf in der Tasche. Würde sie doch noch leben! Wäre sie nur hier, dann müsste er sich nicht so unendlich fürchten. Denn Großmutter wusste immer Rat. An einem dieser Sommerwochenenden, die er bei ihr verbringen durfte, war er am frühen Morgen kurz nach Sonnenaufgang aus dem Haus gerannt. Sei - ne Stimmen existierten damals noch nicht und sein Kopf gehörte noch allein den eigenen Gedanken. Er war ums Haus gerannt, durch den Gemüsegarten, dann hinüber zur Streuobstwiese, wo alte Apfel-und Birnbäume ihre Äste ineinanderflochten und wie einen Baldachin über dem ausgelassen tobenden Kind ausbreiteten. Er war gerannt und gerannt, einfach nur so, glücklich und mit ausgebreiteten Armen, lachend und von der jungen Sonne geblendet. Das Leben war schön an diesem Mor gen, Großmutter in der Nähe, die Stimmen noch fern und kein Aufzug, in dem er eingesperrt den Rest seines Lebens verbringen sollte.
Dann war er über die lockere Abdeckung der Güllegrube hinter dem Haus gelaufen. Die Grube war ein drei Meter tiefes Loch, in dem ein dickes Rohr endete, das oben im Haus – genauer in der Toilette – seinen Ursprung hatte. Zweimal im Jahr, im Frühling und im Herbst, kam ein Lastwagen und pumpte den Inhalt der Grube in seinen schmut zigen Stahlkesselbauch.
Thomas hatte gespürt, wie die Abdeckung unter seinen Füßen nachgegeben hatte, dass er ins Straucheln kam. Schwalben flogen tief über die Wiesen hinter dem Haus und die Sonne lächelte den Jungen an, dessen ausgelassener Lauf nun abrupt zu Ende ging. Er hörte noch, wie das Brett, welches das Loch verschloss, mit einem schmatzenden Geräusch in den Brei unter ihm klatschte und versank. Seine Füße liefen einen Moment im Leeren, er strampelte. Noch lag er flach auf dem Bauch und seine kleinen Finger versuchten, sich an dünnen Grashalmen und Kieselsteinen festzuhalten. Aber er rutschte unaufhaltsam im mer weiter über die Kante in die stinkende Grube hinein. Eine Sandale löste sich und da erst schrie er nach seiner Großmutter.
Großmutter, die in der Küche war, rettete ihn. Sie packte ihn am Ge nick und zerrte ihn aus dem Loch, weg von diesem stinkenden, schmatzenden Schlund, in dem seine Sandale versunken war. Und anschließend presste sie das zitternde Etwas an ihren warmen, weichen Körper und überhäufte ihn mit Küssen.
Würde die Tür in seinem Rücken jemals wieder aufgehen? Würde Großmutters Hand nach ihm greifen und ihn aus diesem Gefängnis befreien, ihn aus dieser Grube retten?
Thomas knabberte an seinen Fingern bis sie schmerzten. Sicher bluteten sie wieder, aber hier war es dunkel und es war niemand da. Niemand, der, mit einem missbilligenden Blick auf die abgenagte Haut an den Fingerkuppen, den Kopf schütteln konnte und Thomas’ Blick so zu Boden zwingen und ihm die Schamesröte in die Ohren treiben würde. Niemand, der sich über seinen Melissentee lustig machen konnte. Niemand, der ihn
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