Rattentanz
fragte, ob er seine Tabletten schon genommen hatte. Niemand, der wissen wollte, was er eigentlich da in der schwarzen Aktentasche, die er immer bei sich trug, für wichtige Dinge verstecke. Es war niemand da, der ihm sagte, dass er verrückt wäre und ihn auf eine schmale Pritsche fesseln wollte, nur zu seinem Besten, versteht sich. Es war niemand da. Niemand.
Auch niemand, der ihn rettete.
Wäre alles nicht passiert, wenn du dummer Junge bloß auf mich gehört hättest. Nummer zwei klang müde. Wir hätten so schön die Trep pe hinaufsteigen können, Stufe für Stufe nach oben zu Dr. Meier, hätten die Sitzung hinter uns gebracht und wären wieder gegan- gen. Aber nein, wir wissen ja alles besser und Aufzugfahren ist ja so toll!
Thomas klammerte sich an seine Aktentasche. Mit geschlossenen Augen lauschte er den Stimmen in seinem Kopf.
Nummer drei lachte: Ist doch schööön hier! Wir vier ganz unter uns, ungestört von der ganzen verrückten Welt da draußen, den ganzen Irren und Psychopathen. Nur wir vier und wir warten auf unser Ende, wir warten auf Gevatter Tod, hihi. Sicher wartet er auch schon auf uns. Ich bin ja sooo aufgeregt! Nummer drei kicherte wie ein kleines Mädchen, dem die Freundin hinter vorgehaltener Hand soeben vom ersten Kuss berichtete. Ich bin so gespannt als was er sich verkleiden wird, der liebe gute Onkel Tod. Oder ist es vielleicht eine Tante? Oder ein Zwitter? Oder ein Etwas ohne alles? Er lachte. Der Tod hat keine Eier und kein Loch und er nimmt uns doch, er nimmt uns doch! Vielleicht kommt er als Hungertod, lässt sich Zeit und beobachtet, wie wir langsam immer dün- ner werden, unsere blanken Knöchelchen durch die ausgemergelte Haut leuchten. Wie unsere Wangen einfallen und wir zum Schluss kaum noch die Kraft aufbringen, uns zu erheben und den Tod gebührend zu begrü- ßen, wenn er endlich bei uns ist. Oder er kommt als Dunkeltod. Er um- fängt uns mit Finsternis und Blindheit und …
Was ist, wenn wir schon tot sind? Nummer eins klang wie ein seniler Philosoph, dem ein unerwarteter Gedankenblitz (die beiden Teile einer Synapse in seinem Hirn hatten endlich zueinandergefunden) plötzlich des Rätsels Lösung wie selbstverständlich präsentiert.
Was? Wir sind schon tot? Nummer drei war verunsichert. Das wäre aber gar nicht schön. Nein, das wäre überhaupt nicht schön, so was.
Er schluchzte, was Nummer zwei nicht daran hinderte, ihrerseits laut über diesen neuen Aspekt ihrer Existenz nachzudenken. Ange nommen, wir sind tatsächlich schon tot, Nummer zwei flatterte durch Thomas’ Kopf, nur mal angenommen. Was ist dann das hier? Wo sind wir? Warum haben wir nicht bemerkt, wie wir gestorben sind? Warum können wir uns noch unterhalten? Ist das hier vielleicht unser Sarg? Wenn ja, warum ist er dann nicht aus Holz, wie es sich für einen an ständigen Sarg gehört und ich für meinen Teil denke schon, dass uns ein ordentlicher Sarg zusteht! Ich will einen Sarg aus Eichenholz! Mit Schnitzereien außen, Schnitzereien, die unser Leben darstellen. Viel- leicht unsere Geburt und wie wir uns alle kennengelernt haben. Sie plauderte fröhlich drauflos und beschrieb detailliert die Bilder, die auf den Deckel sollten: Als Erstes sieht man ein Kind, das neben einem Herd sitzt und Pfannkuchen isst.
Genau. Da haben wir uns kennengelernt, bestätigte Nummer eins.
Und ich bin erschienen, als du unter deiner Bettdecke Dummheiten gemacht hast, fuhr Nummer zwei fort. Aber wir müssen ja nicht zei gen, was deine bösen Hände unter der Decke gemacht haben (Davon kann man blind werden!). Das wären doch zwei wunderschöne Bild- chen für unseren Sarg, oder? Und innen sollte er mit cremefarbenem Da mast ausgeschlagen sein und …
Und was ist mit mir?! Nummer drei war zornig. Wo bleibt die Schnitzerei von mir? Es wäre das beste Bild auf dem ganzen Sarg! Tho mas, wie er vor diesem wunderschönen Mädchen kniet, den Kopf zwi- schen ihren Schenkeln und hinter ihm, da …
Hör auf!, quiekte Nummer zwei. Hör sofort auf! Das kann man nicht zeigen! Von dir wird es kein Bild geben!
Och, das wär’ aber traurig. Das wär’ aber bööse. Wir sollten einen schwarzen Anzug tragen und man muss den Sarg von innen öffnen können, damit wir, sollten wir doch nicht tot sein oder von den Toten auferstehen oder wenn Tote eigentlich gar nicht tot sind, sondern nur in einer anderen Dimension weiterleben, auch wieder aus dem Sarg rauskönnen. Und Blumen will ich, viele, viele Blumen, bunt und duftend, oh
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