Rattentanz
schüttelte Eva den Kopf, »damit hat alles seine Richtigkeit und wahrscheinlich sind die beiden bereits bei ihren Söhnen (Lieber Gott, lass sie glücklich sein!), aber«, sie ahnte, wie der Polizist gleich reagie ren würde, »aber ich kann nicht zulassen, dass die drei Kerle im OP sterben. Die haben keine Chance, dort jemals wieder rauszukommen. Wir gehen zurück und lassen sie frei. Sie haben doch die Pistole – wenn sie die sehen, werden sie uns in Ruhe lassen und verschwinden.«
Mit Vielem hatte Joachim Beck gerechnet, aber damit nicht. Sie wa ren jetzt ungefähr einen Kilometer vom Krankenhaus entfernt, seine Arme schmerzten jetzt schon von dem schweren Müllsack voller Lebensmittel und seine Füße brannten. Und jetzt verlangte sie allen Erns tes, dass er wieder zurückgehen sollte, nur um diese drei Dreckskerle zu befreien? Was war falsch daran, weiterzumarschieren? Sollten sie doch verrecken, die Welt würde nichts vermissen, wenn es diesen Ritter und seine Kumpane nicht mehr gäbe! Sollten sie doch übereinander herfallen, wer weiß, wem sie alles das Leben retteten, wenn sie die drei in Ruhe sterben ließen.
Beck setzte sich auf eine niedrige Mauer, hinter der erste Lupinen ihre bunten Kerzen emporhielten, und zog die Schuhe aus.
»Bitte«, sagte er schließlich, »wenn Sie unbedingt barmherzig sein wollen, nur zu. Ich werde hier auf Sie warten. Geben Sie mir den Sack mit den Medikamenten und beeilen Sie sich.« Er suchte in seinen Taschen nach seiner zerknüllten Zigarettenschachtel und zündete sich die letzte an, die er noch hatte.
»Das geht nicht.« Eva setzte sich zu ihm, nahm ihm die Zigarette aus der Hand und inhalierte tief. »Ohne Waffe würde ich die Tür in der Operationssaal niemals öffnen und mit der da«, sie deutete auf Becks Pistole, »kann ich nicht umgehen.« Sie gab nach einem weiteren Zug die Zigarette zurück. »Sie müssen gehen!«
Joachim Beck ließ die Hand mit der Zigarette sinken und betrachtete sein Gegenüber. Er durchsuchte seinen Kopf nach einer Erwiderung, aber Eva kam ihm zuvor.
»Bitte, versuchen Sie, mich zu verstehen. Die Geschichte mit Glücks ist schwer, aber es war ihr eigener Wille, ihre freie Entscheidung. Das war Sterbehilfe, was ich getan habe, nicht mehr, aber eben auch nicht weniger. Vorgestern hätte man mich dafür noch vor Gericht gestellt. Aber die drei Männer eingesperrt zurückzulassen, das ist Mord. Und egal, was die auch immer getan haben mögen, ich bin keine Mörderin, nein, das bin ich nicht!« Sie nahm die beiden blauen Müllsäcke und legte sie hinter die Mauer in ein Gebüsch. »Wir gehen zusammen, ja?«
Pong-pong-pong. Pong …
Ich halte es hier nicht mehr aus!, schrie Nummer zwei und unterstellte Thomas umgehend, schuld am Steckenbleiben des Aufzuges zu sein. Du hättest wissen müssen, dass vier Personen viel zu viele sind für diese kleine Kiste! Du bist schuld an dem Stromausfall und du bist schuld, dass ich mich so miserabel fühle. Wenn mit diesem Geklapper nicht bald Schluss ist, werde ich wahnsinnig! Ich kann das nicht mehr ertragen! Wie lang macht ihr das jetzt schon? Eine Stunde, einen Tag, ein Leben? Ich krieg Migräne, sag ich euch, und ihr wisst, was das bedeutet!
Thomas unterbrach sein träges Pong-pong auf der Stelle.
Migräne!
In ihm läuteten sämtliche Alarmglocken, Nummer drei jaulte wie ein getretener Hund und zog sich umgehend in den hintersten Winkel seines Denkens zurück und Nummer eins räusperte sich vernehmlich: Ich glaube, wir machen jetzt besser Schluss, bevor noch ein Unglück geschieht.
Uaaahhh, bitte, bitte keine Migräne. Bitte nicht, wimmerte Nummer drei hinter einer Erinnerung hervor.
Migräne bedeutete, dass Nummer zwei zu schreien begann. Und wenn sie schrie, brachte dies selbst Panzerglas zum Bersten! Sie schrie in Thomas’ Kopf im höchsten nur vorstellbaren Ton, so lang und so laut, bis sie ihren Willen durchgesetzt hatte und Thomas ohnmächtig zusammenbrach. Ohnmacht wiederum bedeutete für Nummer eins und Nummer drei, dass ihnen im Prinzip der Stecker gezogen wurde. Sie befanden sich dann für ungewisse Zeit in einer Art Scheintod, der sie nicht nur von der Außenwelt, sondern auch von Thomas abschnitt. Und damit von dem, was sie am Leben hielt. Auf die schreiende Stimme selbst wartete zwar dasselbe Schicksal, aber um ihren Willen durchzusetzen war sie hin und wieder durchaus bereit, eine existenzielle – oder besser nichtexistenzielle – Auszeit einzulegen.
Thomas hielt die
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