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Rattentanz

Titel: Rattentanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Tietz
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und hielt es mit beiden Händen und geschlossenen Augen der anrollenden Kampfmaschine entgegen. Zu spät erkannte Nils Svensson sein eigenes Messer in der Hand des Deutschen, zu spät, um noch ausweichen zu können. Ungebremst rann te er in die acht Zentimeter lange Klinge, die sich bis zum Heft in seinen Bauch bohrte. Hans spürte Blut über seine Unterarme rinnen, Svensson starrte auf ihn herab. Dann sagte der Alte etwas auf Schwedisch, lächelte und fiel zur Seite. Rums. Einfach so. Tot.
    Das war vor einer halben Stunde geschehen.
    Hans Seger hatte mehrere Minuten wie in Trance auf den Alten ge starrt und gewartet. Darauf, dass der sich erneut erheben und um sein Brot kämpfen würde, auf schreiende Nachbarn und heranjagende Polizeisirenen. Aber nichts dergleichen geschah. In der neuen Wirklichkeit gab es keine Polizei mehr. Das Gesetz bestimmte der Stärkere und diesen Kampf hatte er, Hans Seger, als der Stärkere beendet. Punkt.
    Ohne weiter nach dem zweiten Brot zu suchen nahm Hans seine Beute und die Weinflasche und rannte hinunter zum Strand. Er ließ sich in den Sand fallen und weinte. Er schluchzte wie ein kleines Kind, das erste Mal seit Leas Geburt. Warum hatte ihm der Alte nichts geben wollen? Warum? Nur ein winziges Stück und er wäre zufrieden gewesen und gegangen. Alles wollte der für sich behalten, dieser dumme alte Mann, alles … Hans betrachtete das zerknitterte Bild seiner Familie. Eva. Er liebte Eva, wie er noch niemals einen Menschen geliebt hatte und er liebte Lea. Er sollte bei ihnen sein, in Wellendingen, und nicht hier mit blutbesudelten Händen am Meer sitzen, elfhundert Kilometer von zu Hause. Wäre er nur einen einzigen Tag eher zurückgeflogen! Hätte er sich nur schon am ersten Tag aus dem Hotel gewagt und wäre über die damals noch intakte Öresundbrücke hinüber nach Dänemark! Wäre. Hätte. Wenn.
    Eva würde zurechtkommen, irgendwie, das wusste Hans. Hoffte es. Die anderen im Dorf würden sich um sie kümmern, sollte es da genauso schlimm zugehen wie hier.
    Werden sie dies wirklich? Wer würde sich um Lea und Eva kümmern, solange er weg war? Frieder Faust vielleicht oder Albickers? Er wusste es nicht, wusste nicht einmal mehr sicher zu sagen, ob sich überhaupt jemand seiner Frau und ihrer Tochter angenommen hätte. War sich inzwischen nicht jeder selbst der Nächste? Er betrachtete das Blut des Alten an seinen Händen. Diese Hände hatten getötet, sie zitterten und er wusste, dass Überleben heute wichtiger war als Freundschaft oder Mitmenschlichkeit. Um zu überleben, um ein angeschimmeltes Weißbrot zu ergattern, hatte er eben erst einen Mann getötet, einen Fremden, der ihm niemals etwas getan hatte. In normalen Zeiten hätten sie sich nicht einmal beachtet.
    Er musterte den stillen Spiegel der Ostsee, in dem einige wenige leuchtende Wolkenfetzen ihr Abbild im Wasser betrachteten. Irgendwo da hinten, einhundert Kilometer südlich, lag Rügen. Dort wollte er hin, musste er hin! Dies war der kürzeste Weg zurück nach Deutschland. Nur unbedeutende einhundert Kilometer Salzwasser.
    Er hatte Angst.
    Er konnte seinen Blick nicht von diesen Händen reißen, die zu ihm gehörten und ihm in diesem Augenblick so fremd vorkamen. Er hatte Angst, weil er die Welt, in der er lebte, nicht mehr kannte. Er hatte Angst, weil der Mann, der er war, etwas getan hatte, was nicht zu diesem Mann passte.
    Er hatte Angst, weil Eva nicht bei ihm war, weil ungewiss war, ob und wann sie sich wiedersahen. Er legte das Brot zur Seite, legte es zwischen Muscheln und von den schwachen Gezeiten rund geschliffenen Steinen. Dann ging er zum Wasser. Er wusch sich das Blut von den Händen, die Farbe des Sonnenuntergangs. Und des Sonnenaufgangs! War dies das Ende oder ein Anfang, die Apokalypse oder die ersten Tage einer erneuten Schöpfung? Klares Wasser perlte über seine Hände, nahm das Blut mit ins Meer, wo es mit Licht verschmolz. Seine Hände zitterten. Er war ein Mörder. Wie so viele in diesen Tagen. Ein Mörder. Und hatte Hunger.
    Hans ging mit reingewaschenen Händen zu seinem Brot, setzte sich so in eine Düne, dass er die Ostsee beobachten konnte und brach ein kleines Stück von seiner Beute ab. Fast feierlich führte er die trockenen Krümel zum Mund. Es schmeckte wunderbar! Er aß, riss Brocken für Brocken ab und verschlang ohne innezuhalten fast die Hälfte des Brotes. Er schmeckte das Salz im Teig, Mehl und Wasser, die Hitze des Ofens, in dem es vor Tagen gebacken wurde.
    Beinahe andächtig

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