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Rattentanz

Titel: Rattentanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Tietz
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wir uns zeigen und ihm helfen?«, brach Alicja schließlich das Schweigen.
    »Schon vergessen, was gestern passiert ist? Mir ist nicht nach Frem den zumute. Im Gegenteil, je weiter weg alles Fremde ist, desto besser!«, sagte Karol.
    »Aber du sagst doch selbst, dass er es ohne Hilfe niemals schaffen wird. Und da er allem Anschein nach auch über die Ostsee will, können wir doch gemeinsam fahren. Vielleicht ist er sogar Pole? Was meint ihr?« Sie wartete auf eine Antwort, sah zu Zuzanna, von der sie sich am ehesten Unterstützung erhoffte, und zu Patryk. Aber Letzterem saß die gestrige Auseinandersetzung noch zu tief in den Knochen. Er schüttelte den Kopf.
    »Ich finde, wir sollten warten. Bist du sicher Karol, dass er es allein nicht schafft?«
    Karol nickte.
    »Dann wird er über kurz oder lang aufgeben und weiterziehen. Er wird sich nach einer leichteren Beute umsehen. Oder vielleicht zieht er nach Malmö und über den Öresund.«
    »Wenn er keine Platzangst hat.« Zuzanna lachte mit den anderen.
    »Und wenn er auf die Idee kommt, das Boot zu zerstören? Verbrann te Erde. Was er nicht haben kann, soll auch kein anderer bekom men.« Ein Argument, das die anderen erneut verstummen ließ.
    »Ich gehe zurück«, entschied Karol kurzerhand. Er nahm seinen Rucksack und versteckte ihn in einem Gebüsch. »Und ihr kommt mit. Wir beobachten einfach, was er als Nächstes unternimmt und sollte er Anstalten machen, das Boot zu zerstören können wir immer noch eingreifen. Und packt er zusammen und geht, sind wir zur Stelle, bevor noch ein weiterer Interessent auftaucht.«
    Sie deckten ihre Sachen mit trockenem Gras ab, nahmen die Knüppel, von denen sie die Ketten entfernt hatten, und schlichen zurück an den Strand. Dort saß Hans Seger noch immer neben seinem Boot.

69
    10:00 Uhr, München
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    Sie hatten alles probiert: Hormonbehandlungen, Kontrastmitteluntersuchungen, Sex nach Zeitplan, Sex nach Mondstand, Sex nach Körpertemperatur. Alles lustlos und ineffektiv.
    Am späten Nachmittag des 22. Mai hatten die Ärzte nun ihren Eier stöcken mehrere Eier entnommen. Genau zum Zeitpunkt des Eisprungs. Die Eier kamen in eine Nährstofflösung, exakt siebenunddreißig Grad warm. Einige Stunden später gaben sie sein Sperma hinzu und das, was einmal ihr Kind werden sollte, begann zu wachsen. Der Gewebeinkubator, der ihr Kind aufnahm, imitierte das Milieu der Eileiter. Die Zellen begannen sich wie erhofft zu teilen und die werdenden Eltern fieberten dem 25. Mai entgegen, an dem ihr die befruchteten Zellen eingepflanzt werden sollten. Wenn alles gut ging, wären sie in neun Monaten Mutter und Vater!
    Nichts ging gut. Als das Notstromsystem ausfiel, wurde aus dem Inkubator ein Behältnis wie jedes andere auch. Die Temperatur sank und die befruchteten Eizellen starben ab.
    Den verhinderten Eltern war es egal. Sie hatten andere Sorgen.

70
    10:09 Uhr, Häckeberga Naturreservat, Südschweden
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    Drei Lichter rasten aus der Dunkelheit auf sie zu, blendeten sie. Sie selbst saß festgeschnallt, vor Angst und Panik unfähig, sich zu befreien und zu laufen, zu laufen, weit wegzulaufen! Sie hörte den langgezogenen, schrillen Pfeifton der Lokomotive, konnte durch das halb offene Fenster die Kraft der heranbrechenden Maschine hören. Wieder ein Pfeifen, diesmal lauter, viel näher und gefährlicher. Die Lichter blendeten sie und das Auto, in dem sie saßen. Und das Auto bewegte sich keinen Millimeter, stand mitten auf dem Bahnübergang. Sie sah zu ihm hinüber. Hilf mir, bitte, hilf mir, wollte sie sagen – aber der Platz, an dem er vor wenigen Sekunden noch gesessen hatte, war jetzt leer. Die Fahrertür stand offen und der dicke Schlüsselbund unterhalb des Lenkrades pendelte mit leisem Klirren hin und her, hin und her, wie ein Windspiel im Abendwind.
    Wo war er?! Warum war der Wagen stehen geblieben?
    Sie kamen von einer Geburtstagsfeier. Es war spät geworden, viel spä ter als sie wollte. Aber er weigerte sich zu gehen, es war schließlich sein Bruder, der vierzig wurde und wieder und wieder entwand er sich ih rem Griff, nahm sein Glas und prostete dem älteren zu. In zwei Jahren, zu sei nem eigenen Vierzigsten, sollte alles genauso sein wie jetzt: alle Freun de und Verwandte sollten kommen, ein Spanferkel, Kuchen, Bier und Musik.
    Halb drei fuhren sie endlich in die Nacht, halb betrunken, müde – und trotzdem war er dabei seltsam wach, wie ihr im Nachhinein vorkam, fast elektrisiert. Er raste über menschenleere, wohlbekannte

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