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Rattentanz

Titel: Rattentanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Tietz
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Stra ßen, blinkte vorschriftsmäßig, obwohl weit und breit kein anderes Auto zu sehen war. Sie schlief ein und wurde erst wieder wach, als der Wagen ruckelte und zum Stehen kam.
    Ihr Schrei ging im Kreischen der Bremsen unter. Sie sah Funken aus den glühenden Lichtreifen sprühen, dann wieder Pfiffe, der Zug raste heran, hatte sie fast erreicht, presste die Luft zwischen sich und dem Wagen, in dem sie saß, zusammen, die Lichter blendeten sie, wa ren fast da, schon konnte sie zu ihnen hinaufsehen, ein Aufprall, gleich, gleich wird das Auto zermalmt, sie aus dem Auto geschleudert, damit die weißglühenden Eisenräder sie überrollen und zerteilen! Gleich!
    Sie schrie aus Leibeskräften.
    Eine Stimme! Eine leise Stimme kam zu ihr, wie aus einer anderen Welt, und es war so dunkel und sie spürte ihre Beine nicht mehr. Der Zug – er war da und sie selbst konnte fliegen. Die Räder, brennende Reifen, weiß und heiß.
    Jemand packte sie an den Schultern und schüttelte sie.
    »Du hast nur geträumt.« Henning Malow berührte seine Frau flüchtig an der schweißnassen Wange, dann ging er zurück in die Kü che. Auf der Anrichte neben dem Herd hatte er zwei große Kaffeetassen stehen. Durch einen altertümlichen Kaffeefilter goss er abwech selnd heißes Wasser zuerst in die eine, dann in die andere Tasse. Dann stellte er den Wassertopf zurück auf den verrosteten Campingkocher. Als er den Gashahn zudrehte, bildeten sich auf seiner Stirn Sorgenfalten – das Gas würde keine zwei Tage mehr reichen. Ihm war völlig schleierhaft, wie er hier, dreiundzwanzig Kilometer vom nächsten Geschäft entfernt, Ersatz auftreiben sollte.
    Er gab in beide Tassen je einen Löffel Zucker, in Lenas noch etwas Kondensmilch. Dann ging er ins Nachbarzimmer zu seiner Frau und setzte sich zu ihr an die Bettkante.
    »Hilf mir auf.«
    Er stellte die dampfenden Tassen auf einen kleinen Tisch, packte seine Frau unter den Armen und zog sie im Bett so weit nach oben, dass sie sitzen konnte.
    »Das Kissen«, erinnerte sie ihn. Sie klang gereizt.
    »Natürlich. Das Kissen.« Er stopfte es zwischen Wand und ihren Rü cken. Sie ließ sich nach hinten fallen und schnappte nach Luft. Henning reichte ihr den Kaffee, den sie ohne ein Wort nahm.
    »Wieder derselbe Traum?«, fragte er. Sie nickte. Seit vor vier Tagen (vier Tage!) der Strom ausgefallen war und auch das Telefon nicht mehr funktionierte, waren die Träume zurückgekommen. Und sie hat te schon gedacht, sie hätte sie besiegt. Wie konnte sie nur! Träume las sen sich nicht besiegen. Nicht dieser Traum. Nicht die Realität.
    Sie schlürfte laut ihren Kaffee, ekelhaft laut, dachte Malow, sagte aber nichts. Nein, er würde nichts sagen, kein Wort. Wie immer.
    Henning Malow war dreiundsechzig, Lena fünf Jahre jünger. Vor drei Jahren, kurz nach seiner frühzeitigen Pensionierung, hatte sie sich endlich durchgesetzt und sich ihren Traum erfüllt, erfüllen lassen: weg aus Deutschland und in ein kleines Haus in Schweden, abgeschie den an einem See, nur Henning und sie. Henning Malow wollte nie hier her, er war ein Kind der Stadt, brauchte Menschen um sich, die wenigen Freunde, die sie ihm gelassen hatte. Er mochte diesen Platz hier nicht, nicht den See mit seinem unnatürlich klaren Wasser, nicht die lockeren Wälder, nicht die beängstigend präsente Ruhe. Es fehlte der Duft der Stadt – das Gehetze der Menschen, ihre Gerüche und die Gerüche der Fahrzeuge und Schornsteine. Motorenlärm fehlte ihm und das Rattern der Straßenbahn.
    Zuletzt hatte er, der gelernte Elektriker, als Nachtwächter in einer Fabrik für Glühbirnen gearbeitet. Große Birnen, kleine Birnen, dicke und schmale, helle und andere, die auf dem Prüfstand weniger hell leuchteten. Am liebsten waren ihm die farbigen, sie erinnerten ihn an die Grillnächte im Hochsommer, unter Freunden und mit einem kühlen Glas Bier. Aber seit dem Unfall vor nun bald drei Jahrzehnten ka men diese Nächte nur noch selten zu ihm. Er konnte sie an einer Hand abzählen.
    Schweden war schon immer Lenas Traum gewesen. Am besten ein See, der nur ihnen gehörte, mit einem bescheidenen Haus und einem Steg, der weit ins Wasser hinausführte, auf dem sie am Abend in ih rem Stuhl sitzen konnte, um die Mittsommernacht zu genießen. Und sich von den Mücken fressen zu lassen!
    Er hatte versucht, ihr diesen Traum auszureden (In der Stadt bist du viel besser versorgt, Lena. Hier gibt es Ärzte, die sich um dich kümmern – wer weiß, wo dort am See der nächste

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